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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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überwinden? So blöd konnten auch nur Männer sein.
    Aber auf mich hatten sie ja nicht gehört. Also hatte ich mich damit abgefunden und das Beste daraus gemacht. Viel mehr, als ich mir hätte träumen lassen: mein Wunder. Und jetzt? Von heute auf morgen sollte ich weg. Einfach so. Die Flüge waren schon gebucht. Nur zwei Tage noch.
    Zwei Tage!
    Und warum wollte mein Vater wieder hierher zurück? Meine Mutter brauchte ihn doch. Das war eine Sache zwischen meinen Eltern. Sie wollte doch sicher, dass mein Vater bei ihr war. Aber er kniff. Von wegen den Hausstand auflösen und Behandlungen zu Ende führen! Was für eine fadenscheinige Ausrede! Er musste bei seiner kranken Frau in Deutschland sein. Das war das Einzige, was er musste. Doch stattdessen kehrte er hierher zurück und ich musste in Konstanz bleiben. Das war unfair!
    Außerdem konnte ich jetzt nicht gehen. Nicht jetzt! Das ging gar nicht. Es war ganz und gar unmöglich. Nicht schon übermorgen. Totale Panik überfiel mich. Nur noch zwei Tage! Dann war alles zu Ende. Schluss, aus, vorbei!
    Gut möglich, dass ich Damián vor unserer Abreise gar nicht mehr sah. Meine Panik schraubte sich ins Unendliche. Und selbst wenn, wie sollte ich diesen Abschied aushalten? Wie überlebte man so was? Hatten Eltern das Recht, so brutal Schicksal zu spielen? Mit einem »Ich habe die Flüge schon gebucht« konnten sie alles abschneiden, abreißen, für immer zerstören, was ich angeknüpft hatte: Freundschaften, die Liebe, Träume, Zukunft.
    Durften sie das? Ja, juristisch waren sie im Recht. Ich war noch nicht volljährig. Was ich wollte, zählte nicht. Sie konnten es berücksichtigen, wenn es ihnen gefiel und wenn es ihnen nicht in den Kram passte, dann galt es einfach nichts. Stell dich nicht so an! Du bist ja noch jung. Du wirst schon einen anderen Mann finden, den du genauso liebst.
    Das war nicht fair!
    Es war einfach nicht fair.
     
    Estrellecita wartete in der Wohnung. Sie wollte alles ganz genau wissen. Ihr Mitgefühl war wortreich und belehrte mich darüber, wie ich eigentlich empfinden musste. Meine Mutter war krank, ich musste verrückt sein vor Sorge, ich musste alles tun, damit es ihr wieder besser ging. Sie brauchte mich jetzt.
    Es gelang mir erst, sie zu beruhigen, als ich ihr erzählte, dass wir am Freitag nach Deutschland fliegen würden. Und noch mehr beruhigte es sie, als sie erfuhr, dass mein Vater eine Woche später zurückkommen und noch ein oder zwei Monate in dieser Wohnung wohnen und ihre Dienste in Anspruch nehmen würde. So war ihre Welt wenigstens in Ordnung.
    Als sie gegangen war, setzte ich mich an den Computer. Ich hatte von Damián keine Telefonnummer, aber immer noch seine E-Mail-Adresse beim CRIC. Er hatte zwar versprochen, mich heute anzurufen, aber bis jetzt hatte er es nicht getan. Um zur Uni zu fahren, war es zu spät. Er war vermutlich nicht mehr dort und die Adresse seiner Studentenbude hatte ich nicht. Also schrieb ich ihm, dass wir uns morgen sehen müssten, weil ich übermorgen mit meinen Eltern das Land verlassen musste.
    Was konnte ich noch tun?
    Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich auf keinen Fall wegkonnte. Unter keinen Umständen. Das würde ich nicht mit mir machen lassen. Punktum.
    An diesem Punkt meiner Überlegungen rief Elena an. Ich erzählte ihr die ganze Katastrophe.
    »Aber das ist doch kein Problem«, sagte sie sofort. »Du kannst bei uns wohnen, falls dein Vater sich nicht um dich kümmern kann. Ich frage gleich nachher meine Eltern. Sie haben bestimmt nichts dagegen. Und deine Mutter schicken wir erst einmal in unser Haus an der Karibikküste. Da kann sie sich von der Höhenluft erholen. Und zu Weihnachten sind wir dann alle dort.«
    Das war die Lösung. Hoffnung loderte in mir auf. Doch kaum hatte ich aufgelegt, fiel sie in sich zusammen. Mein Vater würde es ablehnen. Es hatte keinen Sinn, ihn anzurufen. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Was sollte meine Mutter am Meer? Und überhaupt: Wer sollte sich dort um sie kümmern? Nein, Jasmin. Mach dir keine Hoffnungen. Erwachsene hatten stets tausend Argumente, warum sie das tun mussten, was sie aus ganz anderen Gründen taten. Mein Vater gab auf, setzte dem Ganzen ein Ende. Die vorzeitige Rückkehr nach Deutschland war sein Opfer. Hoffentlich würde meine Mutter es zu würdigen wissen.
    Ohne noch groß zu überlegen, ging ich in mein Zimmer und packte das Nötigste in meine Reisetasche. Ich wagte kaum zu denken, was ich da tat. Es war, als handle mein Körper

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