Der Ruf des Kolibris
verbracht.«
»Das ist ja schrecklich!« In Elenas mitfühlenden Augen spiegelten sich die Sorgen, die ich mir um meine Mutter hätte machen müssen. Ich kam mir ziemlich schäbig vor. So leicht hätte Elena es mir nicht machen müssen. Sie nahm selbstverständlich an, dass ich vor lauter Sorge um meine Mutter ganz kopflos gewesen war, und verzieh mir. Von der Reinigungszeremonie konnte ich ihr nun nichts mehr erzählen. Wir würden nie wieder das vertrauensvolle Verhältnis haben, das wir einmal gehabt hatten. Ich hatte ihr zwar früher auch nicht alles genau so erzählt, wie es gewesen war. Aber diesmal hatte ich sie richtig angelogen. Das war das Ende jeder Freundschaft.
Tränen sammelten sich hinter meinen Augäpfeln. Es war nur der Anfang. Alles ging an diesem Tag kaputt.
Vom Unterricht bekam ich nichts mit. Ich starrte aus dem Fenster in den Regen und fragte mich, warum es mir nicht gelang, um meine Mutter Angst zu haben. Lag es daran, dass sie ständig Kopfschmerzen hatte, dass es ihr eigentlich immer schlecht ging und ich nicht wusste, was ich tun musste, damit es ihr besser ging? Aber ist es wirklich deine Aufgabe, deine Eltern glücklich zu machen? An diesem fürchterlichen Tag begriff ich plötzlich, dass es eine Sache zwischen meinem Vater und meiner Mutter war, was sich da gerade abspielte. Es ging nicht um mich. Ich konnte meine Mutter nicht glücklich machen. Sie erwartete von meinem Vater, dass er es tat.
Wieder fragte ich mich, was meine Mutter gestern vorgehabt hatte. Warum war sie aus dem Haus gegangen? Was hatte sie an all den Tagen gemacht, an denen sie sich krankgemeldet hatte und mein Vater und ich nicht zu Hause gewesen waren? Sie hat einen Liebhaber, ist doch klar, hätte Vanessa gesagt. Und Elena? Sie steckte voller Skandalgeschichten über die Liebschaften und Affären ihrer Kreise. Ihre Antwort wäre vermutlich genauso ausgefallen. Deshalb konnte ich mit ihr darüber auch nicht sprechen. Sie hätte es brühwarm ihrer Mutter erzählt und eine neue Skandalgeschichte hätte in unseren Kreisen zu kursieren begonnen.
In der Mittagspause ließ ich Elena alleine in die Mensa vorgehen – ich hatte noch immer keinen Hunger – und rief meinen Vater an. Er war wider Erwarten tatsächlich in seinem Büro und nahm sofort ab. Ich hörte seiner Stimme an, dass er sich ernstlich Sorgen machte. Was er mir erzählte, passte dazu nicht recht. Die Medikamente schlügen an, sagte er, aber sie werde noch mindestens eine Nacht im Krankenhaus bleiben müssen. Ich könne sie besuchen. Sie werde sich sicher freuen.
Es klang, als sei er sich da gar nicht sicher. Sehr seltsam.
Ich marschierte ins Rektorat und meldete mich für den Nachmittagsunterricht ab, um ins Krankenhaus zu fahren.
Mama lag in einem abgedunkelten Raum, hatte kleine müde Augen und freute sich kaum, mich zu sehen. Sie gab sich Mühe zu lächeln, aber Tränen liefen ihr aus den Augen.
»Was ist denn los, Mama?«, fragte ich.
Sie schüttelte nur den Kopf.
Als ich ging, hatte ich den Eindruck, sie verabschiede sich für immer. Ich ging Papa suchen. Er erklärte mir, sie habe eine schwere Depression. Und dann sagte er plötzlich: »Wir werden nach Deutschland zurückkehren. So schnell wie möglich. Ich habe den Flug schon gebucht. Wir fliegen am Freitag.«
Ich war total geplättet. »Aber das geht doch nicht so einfach.«
»Tante Valentina weiß Bescheid. Ihr könnt erst einmal bei ihr wohnen.«
»Wieso ihr?«, fragte ich.
»Ich werde eine Woche später wieder hierherkommen, nur für ein bis zwei Monate. Es gibt einiges zu regeln, die Wohnung ... den Umzug ... ich muss noch ein paar Behandlungen zu Ende bringen. Die Leute verlassen sich auf mich.«
»Dann will ich auch hier bleiben. Bei dir!«
»Das geht nicht, Jasmin. Ich kann mich nicht um dich kümmern.«
»Ich bin doch kein kleines Kind mehr, Papa! Außerdem müsste ich mitten im Schuljahr die Schule wechseln und ...«
»Glaubst du, dass wäre in zwei Monaten einfacher? Du bist jetzt gerade mal ein halbes Jahr raus aus deiner Schule und davon gehen auch noch die Sommerferien ab. Das neue Schuljahr hat gerade erst angefangen.«
»Und wenn ich nicht will? Wenn ich hierbleiben will? Wer fragt mich eigentlich mal, was ich will?«
Mein Vater blickte mich an, ohne mich wirklich zu sehen. »Mich fragt auch niemand, was ich will, Jasmin. So ist das nun einmal. Wenn du erwachsen sein willst, dann musst du damit leben lernen. Du kannst nicht mehr einfach sagen: Ich will oder ich
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