Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
will nicht. Es gibt Pflichten, Notwendigkeiten. Ich habe es mir auch anders vorgestellt, glaub mir.«
    Er schaute mich so erschlagen und müde an, dass mir der Protest im Hals stecken blieb. Sein Traum ging gerade kaputt. Aber, verdammt noch mal, meiner auch!
    »Was ist denn los mit Mama?«, fragte ich. »Ich meine, wirklich!«
    Er lächelte traurig. »Manchmal denke ich, du bist doch nicht für den Arztberuf geboren, Jasmin. Du hast ... wie soll ich das ausdrücken? ... Du hast nicht den Blick für Symptome. Es interessiert dich nicht wirklich brennend, herauszufinden, was jemandem fehlt. Das ist mir so richtig klar geworden bei unserer Reise zur Mine von Inza. Du hast nicht danach gedrängt, mir im Medizinzelt zu assistieren. Es hat dich nicht wirklich interessiert, die Menschen zu behandeln.«
    »Aber du berufst dich doch immer auf die ärztliche Schweigepflicht!«, fuhr ich auf.
    »Und damit gibst du dich zufrieden?« Er lächelte. »Ich habe schon als kleiner Junge jede Wunde verbunden und bei meiner halben Verwandtschaft Diabetes, Leberleiden und Alkoholismus diagnostiziert.«
    Ich musste wider Willen lachen. »Das fand deine Verwandtschaft sicher super. Aber was hat das jetzt mit Mama zu tun?«
    »Nichts.« Mein Vater war ziemlich konfus. »Aber ist dir nie aufgefallen, dass es ihr nicht gut geht?«
    »Sie hat ständig Kopfschmerzen. Ja sicher, das ist mir aufgefallen.«
    »Und was hast du dir dabei gedacht?«
    »Wird das jetzt eine Prüfung oder was?«
    »Nein, Jasmin, tut mir leid. So ist das nicht gemeint.« Der verlorene Blick meines Vaters bekam wieder etwas mehr Peilung. »Vielleicht ist es gut so, dass du dich da rausgehalten hast. Vielleicht tun Kinder das, um sich zu schützen.«
    »Wovor denn, Papa?«, fragte ich erschrocken.
    Er blickte mich an mit seinen grauen Augen. Ich hielt es fast nicht aus.
    »Deine Mutter ist schwer depressiv, sie nimmt seit Jahren Medikamente. Es fing nach deiner Geburt an, Jasmin. Wir haben nie mit dir darüber gesprochen. Kinder glauben immer, sie seien schuld daran, wenn es ihren Eltern nicht gut geht. Aber es hat mit dir nichts zu tun, auch dass Mama bald wieder arbeiten ging, weil sie es daheim nicht ausgehalten hat.« Mein Vater senkte den Blick und wischte ein Stäubchen von seinem Schreibtisch. »Irgendwie sind uns unsere Träume abhanden gekommen. Ich dachte, Kolumbien würde uns guttun. Neue Herausforderungen, neue Erlebnisse. Ich habe mich geirrt. Sie findet es grauenvoll hier. Sie hat jeden einzelnen Tag gelitten. Die Höhenluft, das Klima, der viele Regen, die Gewalt auf den Straßen, die Armut an jeder Ecke. Sie ist todunglücklich. Zu lange habe ich geglaubt, sie verstecke ihre Niedergeschlagenheit und Ablehnung hinter Kopfschmerzen, und mir weiter keine Gedanken gemacht. Aber jetzt hat sich herausgestellt, dass es ein sehr ernstes Problem gibt. Sie könnte jeden Augenblick einen schweren Schlaganfall erleiden. Ihre Blutgefäße im Gehirn halten den geringen Luftdruck nicht aus. Sie platzen. Diesmal war es nur eine kleine Ader. Deshalb kann sie sich nicht erinnern, warum sie gestern aus dem Haus gegangen ist, sie war desorientiert. Sie hat nicht mehr gewusst, wo sie ist, und ich glaube, so ganz weiß sie es immer noch nicht. Aber das wird wieder. Je eher sie wieder in Deutschland ist, in vertrauter Umgebung bei vertrauten Personen, desto besser.«

de

– 42 –
     
    A ber ich will nicht!«, schrie alles in mir, als ich mit dem Bus nach Hause fuhr.
    Mein Vater wollte auch diese Nacht bei meiner Mutter im Krankenhaus verbringen. Erst viele Jahre später hat er mir erklärt, dass er sich damals ernstlich Sorgen machte, meine Mutter könnte ihre letzte Kraft dazu benutzen, das Bett zu verlassen und sich vom Krankenhausdach zu stürzen.
    Immerhin war ich inzwischen leidlich besorgt um meine Mutter, allerdings auch wütend. Und zwar so was von wütend. Das also war es. Meine Eltern bekamen ihr Leben nicht auf die Reihe. Und ich musste alles mitmachen. Mein Vater hatte irgendwie gehofft, ein Auslandsaufenthalt hole meine Mutter aus ihrem Trott heraus und es käme irgendwie alles wieder in Ordnung. Aber war es je in Ordnung gewesen? Und warum hatte er mich nicht gewarnt? Verdammt: Ich hatte dieses Jahr in Kolumbien nie gewollt. Ich hatte es für eine blöde Idee gehalten. Ich hatte sie gewarnt! Das ist Sozialromantik, hatte ich gesagt. Wie hatte mein Vater nur ernstlich glauben können, dass das, was ihm gefiel, meiner Mutter helfen würde, ihre Depression zu

Weitere Kostenlose Bücher