Der Ruf des Kolibris
Wohlstand und er und seine Leute haben nichts, kämpfen um Schulen, sterben in den Minen, streiten sich auf der Straße mit den Hunden ums Essen? Warum musste ich mich ausgerechnet in einen Mann verlieben, der meine Welt nie verstehen wird und den ich nie verstehen werde?
Das war das, was ich eigentlich mit meinen Eltern gern besprochen hätte. Stattdessen hatten sie Kanonen aufgefahren, um mein unglückliches, unsicheres und verzweifeltes kleines Herz in Stücke zu schießen.
Sie hatten Angst, das verstand ich. Sie hatten Angst, dass ich so wahnsinnig und blind vor Liebe sein würde, mich an einen Indio zu hängen, der wer weiß was für krumme Sachen machte. Ich kannte ihn ja nicht, und was ich von ihm gesehen hatte, warf durchaus Fragen auf. Wer war er tatsächlich? Ging es ihm wirklich um eine Universität für sein Volk oder gehörte er der FARC an, den revolutionären Streitkräften, die mit Drogen handelten, um ihren Kampf gegen die Regierung zu finanzieren, die Leute entführten und Dörfer niederbrannten? Ich hatte ja auch Angst. Ich wusste doch auch gar nichts.
Gegen Mittag wurde mein Vater zu einer Notoperation in die Klinik gerufen, meine Mutter pflegte ihre Migräne, und ich lag auf dem Bett oder saß auf dem Balkon – Damián war nicht erschienen, es war kein Gärtner da, der die Pflanzen schnitt – und versuchte nachzudenken. Aber ich war zu aufgebracht, zu traurig, zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hätte gerne an Vanessa geschrieben, aber was sollte ich ihr schreiben?
Ich war allein, unendlich allein. Und ich hatte meine Eltern fürchterlich gekränkt.
Am Abend kam mein Vater zu mir ins Zimmer. Ich sagte ihm, dass es mir leid tue und dass ich nicht so gemeint hätte, was ich gesagt hatte, und er sagte, er verstehe das, aber bei Mama müsste ich mich schon entschuldigen. Sie wolle doch nur mein Bestes. Und jetzt solle ich zum Abendessen kommen.
Weder Mama noch ich bekamen einen Bissen herunter, obwohl ich gleich um Entschuldigung gebeten hatte. Sie sah aus, als hätte sie eben erfahren, dass ich todkrank wäre und binnen weniger Monate an Krebs oder etwas anderem Schrecklichen sterben würde, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Es war eine komisch gedrückte Atmosphäre. Papa und Mama gaben sich Mühe, ruhig mit mir zu reden. Sie fragten nach Damián und wer er sei und was ich von ihm wisse. Und das war, wie schon gesagt, nicht viel.
Ich gab mir auch Mühe, ruhig zu bleiben und vernünftig und einsichtig zu erscheinen. Ich wisse ja auch noch nicht, sagte ich, ob aus Damián und mir etwas werden könne, es sei alles noch ganz ungewiss, und vielleicht würden wir ja schnell merken, dass wir nicht zusammenpassten, aber wir müssten wenigstens die Chance bekommen, es herauszufinden. Und man dürfe ihn nicht einfach vorverurteilen.
Der Horrorsonntag endete damit, dass meine Mutter mir das Versprechen abnahm, dass ich mich nicht ohne ihr Wissen mit ihm treffen würde.
Vielleicht zögerte ich eine halbe Sekunde zu lang.
»Und sollte ich merken«, sagte sie, »dass du dich nicht daran hältst, dann ist Schluss mit Reiten bei Elena und irgendwelchen Unternehmungen nach der Schule. Dann wirst du deinen Vater oder mich immer um Erlaubnis fragen, und zwar bevor du etwas unternimmst. Haben wir uns verstanden? Ich will immer wissen, wo du bist.«
Ich nickte und plante Schleichwege. Elena würde mir helfen, dachte ich.
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– 9 –
W ie sehnte ich den Montag herbei! Ich konnte kaum schlafen vor Ungeduld, dass endlich der Wecker klingelte und ich in die Schule durfte. Allein der Gedanke, dass eine ganze lange Nacht vergehen musste, dass ich erst einmal einschlafen, dann schlafen, dann aufstehen, frühstücken und in die Schule fahren musste, bevor ich Damián wiedersah, machte mich so zappelig, dass ich stundenlang wach lag.
Die Schule würde fortan der einzige Ort sein, wo ich frei war, dachte ich. Und zum Glück arbeitete Damián dort. Ich würde alle Missverständnisse mit ihm klären und wir könnten uns jeden Tag sehen und uns besser kennenlernen.
Aber ich hatte nicht mit der Macht der Erwachsenen gerechnet. Es war ganz einfach: Damián hatte Leandro Perea geärgert, und der ließ sich nicht ärgern. Seine Tochter hatte überdies in ihrer unendlichen Angst vor ihren eigenen Landsleuten laut genug behauptet, er sei ein Dieb und habe mich in der Anlage beklaut. Meine Mutter hatte am Sonntag mit Elenas Mutter telefoniert, voller Sorge, ich könnte das Abitur
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