Der Ruf des Kolibris
schüttelte uns durch. Wir mussten uns erst wieder sortieren.
»Das hast du mir gar nicht erzählt«, flüsterte Elena mir zu, als wir etwas ruhiger durch die Nacht rollten.
»Was denn?«
»Dass man Damián nicht von der Schule geworfen hat, sondern dass er von selbst gegangen ist.«
»Das weiß ich nicht so genau. Ich habe es jetzt nur erfunden«, wisperte ich zurück.
»Und woher weißt du das mit der kranken Schwester?«
»Das erzähle ich dir ein andermal in Ruhe.«
»Und wie benachrichtigen wir ihn jetzt, damit er morgen an den Uhrenturm kommt? Falls die hier uns bis dahin nicht aus den Augen lassen.«
»Das weiß ich auch nicht, Elena. Ich habe keinen Kontakt zu ihm.«
Ich überlegte ja schon die ganze Zeit fieberhaft, wie ich mit Damián Kontakt aufnehmen konnte, aber mir war noch nichts eingefallen. Ich hatte keine Telefonnummer von Mama Lula Juanita, ich wusste nicht einmal, ob sie überhaupt ein Telefon besaß. Und selbst wenn ich ihre Nummer gehabt hätte, so gab es hier auf dem Lastwagen keine Möglichkeit zu telefonieren. Leandros Satellitenhandy befand sich in den Händen der jungen Männer mit den olivgrünen Uniformen und den Gummistiefeln.
Außerdem war es tiefe Nacht. Ich konnte also nur darauf hoffen, dass sich morgen früh irgendwo ein Telefon fand. Doch wenn Damián sich in den Bergen bei seiner Schwester aufhielt, war er vermutlich gar nicht oder nur per rennenden Boten erreichbar. Und wer sagte, dass er überhaupt bereit war, uns aus unseren Notlügen zu erlösen und dem Major und seinen Waffengängern die Komödie vorzuspielen, die ich angezettelt hatte? Warum sollte er uns denn helfen? Schließlich musste er vermuten, dass Leandro Perea seine Macht genutzt hatte, um sein, Damiáns, Praktikum im Colegio Bogotano zu beenden, weil meine Freundin Elena ihn lauthals und öffentlich einen Dieb genannt hatte und weil er selbst sich dem Minenbesitzer gegenüber offen feindselig geäußert hatte. In Damiáns Augen war ich mit den falschen Leuten zusammen.
Wir rollten inzwischen auf einer Asphaltstraße. Weil wir keine Uhren mehr hatten, konnten wir nicht nachschauen, wie spät es war. Elena war gegen mich gesunken und schlief.
Dann hielt der Transporter plötzlich. Elena fuhr hoch.
Der Major erschien mit einem der Bewaffneten, die vorn gesessen hatten, hinten an der Klappe und rief: »Jasmin, komm runter.«
Mein Vater richtete sich auf und packte mich am Arm. »Warum?«, fragte er. »Was habt ihr vor?«
»Keine Angst, wir tun deiner Tochter nichts. In einer Stunde sind wir in Popayán. Jasmin fährt vorn bei mir. Ich möchte mich ein wenig mit ihr unterhalten.«
Widerstrebend ließ mein Vater mich absteigen. Währenddessen stieg der Soldat aus dem Führerhaus auf die Pritsche. Der Major führte mich am Rand einer überraschend breiten Asphaltstraße nach vorn und ließ mich auf der Beifahrerseite einsteigen. Ich musste an den Fahrer heranrücken, damit der Major selbst ebenfalls noch Platz fand.
Wir fuhren los.
Antonio bot mir Zigaretten an und, als ich ablehnte, Kokablätter. »Das hält wach«, sagte er. »Man spürt die Kälte nicht, man hat keinen Hunger und es hilft gegen die Höhenkrankheit.«
Ich schüttelte instinktiv den Kopf. Kokablätter enthielten Kokain, soviel ich wusste.
»Keine Sorge«, sagte Antonio. »Man wird nicht abhängig davon. Kokablätter gehören zu unserer Kultur wie bei euch Kaffee oder Tee. Die Spanier haben früher die Minenarbeiter damit versorgt. So konnten sie zwei Tage arbeiten, ohne zu essen und zu schlafen. Dann kamen die Kommunisten und wollten sie verbieten, weil sie zur Ausbeutung dienten. Aber der Kokaanbau gehört zu unserer Kultur und niemand kann ihn uns verbieten.«
Er drückte mir ein paar trockene Blätter in die Hand. Sie waren länglich geformt wie Weidenblätter.
»Du steckst sie in den Mund, kaust sie ein bisschen und machst eine Kugel daraus, die du unter die Zunge steckst. Wenn sie nach einer Stunde nach nichts mehr schmeckt, nimmst du die Kugel raus. Aber du spuckst sie nicht auf den Boden, denn Kokablätter sind heilig und Pachamama bespuckt man nicht.«
Pachamama, so nannte man in der Sprache der Andenvölker die heilige Mutter Erde.
»Nun nimm schon!«
Sollte ich es riskieren, Antonio zu beleidigen? Ich steckte mir drei Blätter in den Mund und begann vorsichtig darauf herumzukauen. Sie schmeckten grasig.
Antonio de Paicol lachte freundlich. »Es macht dich wach, wirst sehen.«
Es wirkte wie starker Kaffee. Ich fühlte
Weitere Kostenlose Bücher