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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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sicher. Wenn Mama das wüsste!
    Ich überlegte, ob ich zurück ins Büro des CRIC gehen sollte. Sie würden mich sicher meine Mutter anrufen lassen. Doch was sollte ich sagen? »Mama, wir sind da in eine dumme Geschichte hineingeraten, aber mach dir keine Sorgen, das kriegen wir schon hin.« Auch in der Herberge hätte ich anrufen können. Aber ich verwarf es. Müdigkeit klebte mich an die Bank. Ich hatte wenig geschlafen in der Nacht und die Sonne wärmte so schön. Solange ich mitten unter Leuten saß, war ich sicher. Ihre Stimmen verschwammen zu einem Brei von Geräuschen. Irgendwann schreckte ich hoch. Ich musste einen Moment eingenickt sein.
    Mein erster Blick galt der Uhr. Es war ein Uhr durch. Dann schaute ich mich um und entdeckte Don Antonio, der am Ausgang der Gasse mit der Bar stand, im Schatten des Eckhauses, und die Hand zu einem schnellen Zeichen hob. Er wollte, dass ich zu ihm kam.
    Auf einmal begriff ich, warum er mich allein auf den Platz geschickt hatte. Wenn er und seine Leute Feinde von Damián waren, dann würde Damián ihn sofort erkennen. Antonios Narbe war auffällig. Damián hätte sofort gewusst, dass ihm Gefahr drohte, und wäre vermutlich umgekehrt. Das gab mir eine gewisse Freiheit Don Antonio gegenüber. Ich beeilte mich darum auch nicht besonders, zu ihm zu gehen. Langsam stand ich auf, gemächlich überquerte ich die Straße, mich immer wieder nach dem Uhrenturm umblickend, so als ob ich ernsthaft mit Damiáns Erscheinen rechnete und mich nicht zu weit vom Treffpunkt entfernen wollte. Und ich blieb in der Sonne stehen, so weit von dem Major in Zivil entfernt, dass er mich nicht packen und in den Schatten der Straße ziehen konnte, ohne dass es die bewaffneten Polizisten, die überall herumstanden, bemerkt hätten.
    »Er ist noch nicht da«, rief ich Antonio zu. »Sicher ist ihm was dazwischengekommen.«
    Antonio sah unzufrieden aus.
    Ich lächelte. »Aber er wird kommen. Um sechzehn Uhr ist der nächste Termin, den ich mit ihm ausgemacht habe, falls er es bis zehn Uhr nicht schafft. Deshalb möchte ich jetzt kurz was einkaufen gehen. Hygieneartikel. Elena braucht da was. Aber du musst mir Geld geben. Ihr habt mir ja heute Nacht alles abgenommen.«
    Antonio griff sich in die Jackentasche. Ich machte zwei Schritte auf ihn zu, blieb dann aber stehen und schaute mich um, so als hätte etwas drüben an der Kathedrale meine Aufmerksamkeit erregt.
    »Und du«, fuhr ich fort, »kannst in der Zwischenzeit meinen Vater und die anderen hierherbringen. Dann verlieren wir keine Zeit, wenn Damián aufkreuzt. Dann können wir gleich losfahren zu seiner Schwester in die Berge.«
    »Komm!«, rief Antonio. »Komm mal her!«
    Ich wich zurück und blickte mich hastig um. Ein junger Mann in blauem Kittel schritt zügig den breiten Weg am Rand des Parque Caldas entlang in Richtung Kathedrale. Mein Herz hüpfte. Aber ich wusste, ich irrte mich, ich hatte heute schon ein Dutzend Mal geglaubt, Damián zu sehen, und dann war er es doch nicht gewesen. Er konnte es ja auch gar nicht sein. Er wusste nicht, dass ich auf ihn wartete. Aber es war meine Chance, Antonio zu entgehen.
    Ich rief: »Ich glaube, da ist er!«
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Antonio sich in den Schatten verdrückte, und lief los, ohne mich noch einmal umzudrehen.
    Der Mann im blauen Hemd war bei dem Fotografen stehen geblieben, der Fremden und Einheimischen seine Dienste anbot. Ich versuchte, meinen Blick von ihm zu wenden. Ich konnte unmöglich jedem jungen Indio hinterherschauen wie eine läufige Hündin, dachte ich. Aber meine Augen kehrten schon nach wenigen Schritten wieder zu ihm zurück. Ich würde knapp zehn Meter hinter seinem Rücken vorbeigehen, wenn ich meinen Weg zum Uhrenturm fortsetzte. Er trug eine verwaschene graue Hose und die Gummistiefel derer, die aus dem Urwald kamen oder in den Urwald gingen. Das blaue Hemd war fast zu knapp für die breiten Schultern. Das kurze Haar formte im Nackenwirbel ein kleines Fragezeichen. Mir wurden die Knie weich.
    Der Fotograf mit seiner Kamera auf dem Bauch und seiner Kladde Beispielfotos erklärte ihm gerade etwas. Der Indio streckte den linken Arm aus, deutete auf den Uhrenturm und schien sich zu vergewissern, dass er den Fotografen richtig verstanden hatte.
    Die Knie wollten mir nachgeben.
    Die Uhr!
    Der Indio trug am linken Handgelenk eine goldene Uhr mit gewölbtem Glas und altem Lederarmband. Und es war nicht seine Uhr. Ich erkannte sie wieder. Es war Simons Uhr, also

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