Der Ruf des Kolibris
die Hand über die Rückenlehne der Vorderbank gelegt.
»Nun erzähl mal«, sagte er. »Was genau ist passiert?«
Automatisch senkte ich die Stimme. Das half mir, ruhig und der Reihe nach zu erzählen, was geschehen war. Ich berichtete von unserem Aufbruch im Hubschrauber von Leandro Perea, von unserer Landung in Campoalegre und unserer Weiterfahrt in zwei Jeeps, von dem Sattelschlepper, der sich festgefahren hatte, von dem Überfall der Gruppe von Major Antonio, von meiner Notlüge mit seiner, Damiáns kranker Schwester, weil Leandro den Guerilleros verschweigen wollte, dass wir eigentlich zur Mine wollten, von der Fahrt im Laster nach Popayán, die in der Herberge und mit unserer Erkenntnis geendet hatte, dass wir vermutlich Geiseln von Don Antonio waren, von meinem Gang ins Büro des CRIC und Rocíos Vermutung, dass es Don Antonio nur darauf ankam, durch mich, ihn, Damián, in die Hände zu bekommen.
Er hörte sich alles schweigend an. Nur als ich von meiner Notlüge mit seiner kranken Schwester erzählte, veränderte sich seine Miene kurz. Und als ich geendet hatte, bemerkte er: »Meine Schwester Clara ist tatsächlich schwer krank.«
»Ich weiß, Damián«, antwortete ich. »Sonst wäre ich doch nie auf die Idee gekommen, dich da so mit reinzuziehen. Deine Mama Lula Juanita hat es mir erzählt.«
Unbehagen trat in Damiáns Gesicht. Aber er schien nicht überrascht. Er wirkte eher wie einer, der an etwas erinnert wird, was er zu vergessen versucht hat.
»Ich ... ich habe sie vor drei Wochen besucht«, beeilte ich mich zu erklären. »Ich wollte ... nun ich wollte wissen, wo du steckst. Ich wollte dir sagen, dass ich ... ich es unmöglich finde, dass die Rektorin dich entlassen hat, nur weil Leandro ...«
Damián schüttelte den Kopf. »Nein! Señora Aldana hat mich nicht entlassen. Ich bin ...« Er zögerte. Sein Gesicht verschloss sich. »Es war meine eigene Entscheidung. Ich wollte ...« Er unterbrach sich. Sein Blick flüchtete in den goldenen Chor, als könne nur die Mutter Maria ihm weiterhelfen.
»Du wolltest zu deiner Schwester?«, schlug ich vor.
Er schwieg.
»Das hat deine Großmutter jedenfalls gesagt«, fuhr ich fort. »Und du müsstest wegen einer Konferenz des Regionalrats in Popayán sein.«
Ich erwähnte nicht, dass Mama Lula Juanita auch von den sieben Leben der Liebe gesprochen hatte, dem Schrecken, der Blindheit, der Wandlung, der Erfüllung, der Zerstörung, dem Opfer und der Erlösung, und dass ich mich jetzt vermutlich im Stadium der Blindheit befand. Ich erzählte auch nicht, dass ich am Schluss zornig erklärt hatte, ich hätte verstanden, warum Damián sich nicht mit mir, einer Weißen aus dem fernen Deutschland, abgeben konnte, bei den großen politischen Plänen, die er hatte.
Aber vielleicht war sowieso alles ein Irrtum, womöglich war er auch nur ein Guerillero und gehörte einer der vielen, einander bekämpfenden Gruppen an, womöglich sogar der Gruppe von Don Antonio, denn er trug ja Simons Uhr, die mir gestern Nacht einer von Antonios Kämpfern abgenommen hatte.
»Hat Juanita dir nichts davon gesagt?«, fragte ich.
Damián blickte mich wieder an, reagierte aber nicht. »Ja«, sagte er schließlich, »es stimmt. Ich habe hier zu tun. Wir bereiten ein großes Treffen der Indígenas vor.«
»Und deine Schwester?«
»Clara!« Ein leidvoller Unterton trat seine Stimme. »Sie ... sie wird sterben, fürchte ich.«
»Kann deine Großmutter ihr denn nicht helfen? Wenn es nur am Weg liegt, Leandro könnte sie mit dem Hubschrauber holen. Wenn ich ihn darum bitte, wird er bestimmt ...«
Damián schüttelte den Kopf. »Meine Großmutter hat schon alles versucht. Sie kann Clara nicht helfen. Die indianischen Heilmethoden sind sehr erfolgreich, wenn ... wenn die Seele mitspielt. Die Kräuter stärken die Abwehrkräfte und die Zaubersprüche fördern den Willen, gesund zu werden.«
»Aber Clara will nicht gesund werden?«, fragte ich vorsichtig nach.
»Sie kann nicht.«
»Was hat sie denn?«
»Es geht ihr schlecht. Sie kann nicht essen. Schon seit vielen Jahren. Sie ... sie hat immer wieder Fieber und Schmerzen in den Gliedern und im Leib.«
»Mein Vater könnte sie untersuchen. Er kann ihr vielleicht helfen.«
Ein trauriges Lächeln huschte über Damiáns Gesicht. »Das möchtest du so gerne, dass dein Vater meiner Schwester hilft, dass er helfen könnte, nicht wahr, Jasmin? Dein Vater ist ein guter Mann, er würde sicher alles tun, was er kann. Aber auch er wird
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