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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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ihr nicht helfen können, fürchte ich. Clara war schon hier im Krankenhaus. Sie haben viele Untersuchungen gemacht.«
    »Aber er könnte sie sich doch wenigstens einmal anschauen. Dann ... dann hätte unsere Reise hierher doch noch einen Sinn. Bitte, lass es meinen Vater versuchen!«
    Damián senkte den Blick auf seine Hand, die auf seinem Oberschenkel lag. Ich sah, wie er mit sich rang. Seine Brust hob sich unter einem stillen Seufzer. Dann blickte er mich wieder an.
    »Okay, Jasmin«, sagte er. »Aber«, fügte er hinzu, ehe ich auf die Idee kam zu jubeln, »vorher müssen wir wohl deinen Vater, deine Freundin Elena und den Großen Guaquero aus Don Antonios Klauen befreien, nicht wahr?«
    Ach ja, richtig! Die schwierige Wirklichkeit brach wieder über mich herein. Seltsamerweise hatte ich jetzt auch endlich die Angst, die ich schon die ganze Zeit hätte haben müssen. Jetzt, wo Hilfe so nah war. Damián würde uns helfen, das war gewiss, aber das bedeutete eben auch, er würde sich selbst in Gefahr begeben. Und das machte mir Angst. Wenn ich daran schuld war, dass er diesem narbengesichtigen Major Antonio de Paicol in die Hände fiel und womöglich ums Leben kam, dann würde ich das nicht überleben. Das stand fest. Und so wie es aussah, war ich schuld daran, dass mein Vater, Elena und Leandro sich in der Lage befanden, in der sie sich befanden, denn es war meine Notlüge gewesen, die uns hierhergebracht hatte. Vielleicht wären wir andernfalls längst tot gewesen oder man hätte uns gleich in irgendein Camp in die Berge gebracht, das mochte ja sein, aber Damián wäre nicht in die Geschichte verwickelt worden.
    »Ich möchte nicht, dass du dich in Gefahr begibst«, sagte ich.
    Damián lachte leise. »Unser Leben ist immer gefährlich. Aber hab keine Angst, Jasmin. Don Antonio ist ein Dummkopf.«
    Er überlegte einen Moment. Dann stellte er mir ein paar Fragen über die Art und Weise, wie wir untergebracht waren. Und es beruhigte ihn, dass wir keine Bewacher auf unseren Zimmern hatten. Jedenfalls bisher nicht.
    »Wird es eine Schießerei geben?«, erkundigte ich mich.
    »Wir Indígenas von Tierradentro tragen keine Schusswaffen«, erwiderte Damián. »Auf unserem Boden wird kein Krieg geführt, dafür haben die Ältesten gesorgt, als sie, allein mit unseren traditionellen Stäben bewaffnet, den Armeen der Drogenbosse aus Medellín und der FARC gegenübertraten und eine Waffenruhe erzwangen.«
    Stolz saß er auf der harten Kirchenbank, den einen Arm über die Lehne der vorderen Bank gelegt, die andere Hand auf seinem Oberschenkel. Nur seine Finger zuckten leise. Er strahlte eine unbegreifliche Ruhe aus, eine Kraft und Sicherheit, die mich umhüllte wie eine warme Decke, in die ich mich am liebsten hineingekuschelt hätte. Es war beinahe unerträglich, ihm so nahe zu sein und dennoch von ihm getrennt. Ich traute mich nicht, seine Hand zu ergreifen. Immerhin befanden wir uns in einer Kirche. Vielleicht hatte er mich hier hereingebracht, damit genau das nicht passierte, damit wir das, was zwischen uns stand, nicht übersprangen, damit sich unsere Hände nicht ineinander verflochten und unsere Lippen sich nicht trafen. Und dennoch konnte ich kaum an etwas anderes denken.
    »Pass auf«, sagte er, »du gehst jetzt ...«
    Ich musste mich zwingen, den Inhalt seiner Worte zu begreifen.
    »... zu Don Antonio und sagst ihm, dass ich erst noch ein paar Dinge erledigen muss, bevor wir in die Berge gehen, und dass wir uns morgen um zehn wieder hier am Uhrenturm treffen. Und dann lässt du dich von ihm zurück in die Herberge bringen. So gewinnen wir Zeit. Ihr benehmt euch ganz normal, ihr esst zu Abend, ihr unterhaltet euch, ihr geht ins Bett. Aber ihr zieht euch nicht aus und ihr habt eure Sachen gepackt und griffbereit. Ihr schlaft nicht alle, einer von euch ist immer wach. Ihr haltet euch bereit, jederzeit die Herberge zu verlassen. Und ihr bleibt auf euren Zimmern, egal, was passiert, bis jemand von uns kommt und euch holt. Verstanden?«
    »Aber wie soll das gehen? Unsere Bewacher haben Waffen! Gestern Nacht waren es fünf.«
    »Ganz ruhig, Jasmin! Wir werden uns etwas einfallen lassen. Hauptsache, ihr seid bereit, jederzeit die Herberge zu verlassen.«
    Er stand auf. Ich rutschte aus der Kirchenbank. Die Uhr, meine Uhr oder genauer Simons, die Damián am Handgelenk trug, fiel mir wieder ins Auge. Wie war er an sie gekommen? Wie konnte das gehen? Vor nicht ganz zwölf Stunden hatte mir diese Uhr ein Kämpfer mitten in den

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