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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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ersten Stock eines alten weißen Hauses mit blauem Balkon untergebracht. In einem großen düsteren Raum standen alte Schreibtische aus dunklem Holz mit uralten schwarzen Schreibmaschinen. Auf den Tischen häuften sich Papiere, Flugblätter und Prospekte, in den Regalen standen Bücher. In der Ecke am Fenster befand sich der einzige Computerarbeitsplatz. Dort saß, mit dem Rücken zu mir, eine junge Frau und tippte. Eine Kaffeetasse und ein voller Aschenbecher standen neben ihrer Tastatur. Ich räusperte mich.
    Die Frau am Computer drehte sich um. »Hallo.«
    »Hallo, ich suche Damián Dagua«, erklärte ich.
    »Moment«, sagte die junge Frau, zündete sich eine Zigarette an und griff zum Telefon.
    Erregung durchspülte mich. So einfach war das?
    Sie sprach schnell und leise, und ich brauchte eine Weile, bis ich mir sicher war, dass sie nicht Spanisch, sondern einen der indigenen Dialekte sprach, die so klangen, als müsse man einen Knoten in die Zunge machen. Sie unterbrach sich, hielt die Sprechmuschel zu und fragte mich: »Wer bist du?«
    »Jasmin. Ich komme aus Bogotá.«
    Sie nickte, lächelte und schnurrte etwas ins Telefon. Eine Deutsche hätte wahrscheinlich nachgefragt, denn dass ich keine Kolumbianerin war, musste die Frau mir ansehen und anhören. Aber im spanischen Sprachraum war es nicht üblich, indiskrete Fragen zu stellen. Wenn Damián Dagua eine Ausländerin kannte, die gerade aus Bogotá nach Popayán gekommen war, dann war das seine Sache und ging sie nichts an.
    »Es ist dringend!«, sagte ich.
    Die Frau unterbrach erneut, hielt die Muschel zu und blickte mich an.
    »Es ist ein Notfall!«, ergänzte ich. »Hast du Damián dran? Kann ich mal mit ihm sprechen?«
    »Ich habe seinen Onkel Gustavo dran. Er hat einen Laden in der Calle Sexta. Er weiß nicht, wo Damián steckt. Er hätte schon gestern wieder hier sein müssen. Wir warten nämlich auch auf ihn. Möchtest du mit Gustavo sprechen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Die Frau sagte noch ein paar Worte ins Telefon und legte dann auf.
    Vermutlich stand ich ziemlich ratlos herum, denn sie fragte in einem fast privaten Ton: »Was ist los?«
    »Sie haben meinen Vater und ... und noch ein paar Leute«, sprudelte es aus mir heraus.
    Die junge Frau wurde ernst: »Wer hat deinen Vater?«
    Ich erzählte ihr alles.
    »Ich verstehe«, sagte sie, als ich geendet hatte, »Don Antonio will an Damián heran. Er will ihn haben und du sollst ihn ihm bringen.«
    Ich erschrak zutiefst.
    »Gut, dass du mir alles erzählt hast, Jasmin. Übrigens, ich heiße Rocío.«
    Sie reichte mir die Hand. Dabei lächelte sie nicht.
    »Und was«, fragte ich, »wollen sie mit Damián machen, wenn sie ihn haben?«
    »Ihn töten.«
    »Warum denn?«
    Rocío zuckte mit den Schultern. »Das sind böse Leute. Sie wollen nicht, dass wir Indígenas uns selbst organisieren. Sie haben gut verdient in den letzten Jahren. Sie wollen, dass es so bleibt. Das sind Kriminelle. Sie kennen nichts anderes als Erpressung, Diebstahl und Mord. Sie überfallen Lastwagen, entführen sie und verkaufen die Ladung zu überhöhten Preisen an die Leute. Denen geht es nur um Macht und Geld.«
    »Und was soll ich jetzt tun?«
    »Ich sage dir, was du tun wirst, Jasmin. Du gehst zurück und wartest am Uhrenturm. Wenn du zwei Stunden gewartet hast, gehst du zu Don Antonio in die Bar und sagst, Damián sei nicht gekommen, euer nächster Termin sei am Nachmittag um vier. Wenn er dich dann wieder mitnehmen will in die Herberge, sagst du, du wolltest ein paar Hygieneartikel kaufen, was Frauen so brauchen.« Sie lachte kurz. »Da wird er nicht mitkommen wollen. Du gehst aber nicht einkaufen, sondern kommst wieder hierher ins Büro. Bis dahin haben wir etwas organisiert und sagen dir, wie es weitergeht. Hast du mich verstanden?«

de

– 14 –
     
    A ls ich zum Parque Caldas zurückkehrte, war es kurz nach zehn. Ich setzte mich auf eine Bank unter einen riesenhaften Gummibaum. Ich hatte zwar meine eigene – eigentlich Simons – Uhr nicht mehr, aber der Turm hatte eine große Uhr, deren Zeiger ich langsam wandern sah. Und jeder Einwohner oder Besucher von Popayán schien einmal am Tag auf den zentralen Platz und in den Park kommen zu wollen. Es war wie ein Volksfest. Die eine Hälfte wollte der anderen etwas verkaufen.
    Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Wir, mein Vater und ich, waren in eines der Abenteuer hineingeraten, die wir unbedingt hatten vermeiden wollen und von denen wir geglaubt hatten, wir seien davor

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