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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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etwas ganz anderes: Es war meine Chance! Damián war kein Junge wie Simon, er war ein Mann, der mit seinen rund zwanzig Jahren so viel erlebt hatte, wie Simon oder mein Vater mit vierzig nicht erlebt haben würden. Und dieser Mann verliebte sich nicht einfach in ein Mädchen, dessen einzige Interessen bisher Bücher und Pferde gewesen waren und dessen größte Probleme darin bestanden hatten, was sie am Morgen anzog und warum sie in der Klasse nicht beliebt war. In so eine Tussi hätte ich mich auch nicht verknallt. Aber die Jasmin, die ich bis dahin gewesen war und für unabänderlich gehalten hatte, war auf einmal irgendwo zurückgeblieben, in Bogotá oder sogar bereits in Konstanz am Bodensee.
    Hier war ich etwas Neues. Meine blauen Augen waren eine Besonderheit, meine Fraulichkeit zog Blicke auf sich. Ja, ich war auf einmal erwachsen geworden. Und es fühlte sich gar nicht mal unangenehm an. Es enthielt die ungeheure Möglichkeit der Liebe. Und was sie war, das begann ich zu ahnen, schmerzhaft zwar und intensiv, aber auch als mein Weg in die ... ja, in die Freiheit!
    Mir schwindelte etwas, denn wohin mich meine Freiheit führen würde, war völlig ungewiss. Aber es war auch erregend. Es machte mich mutig. Komme, was da wolle, mein Leben fing gerade an, und es fing ganz anders an, als das meiner Eltern vor zwanzig Jahren angefangen hatte, als sie sich kennenlernten. Meines war komplizierter und aufregender und ungewisser. Und das schien mir im Moment keineswegs erschreckend oder beängstigend. Ich musste also tatsächlich bereits im zweiten Leben der Liebe angekommen sein, im Stadium der Blindheit. In der Tat: Denn ich erzählte niemandem etwas von dem vernünftigen Verdacht gegen Damián. Ich beschloss für mich allein, dass der Verdacht unbegründet war. Damián würde niemals etwas tun, was mir und meinen Gefährten schadete. Davon war ich blind überzeugt.
    »Komm, erzähl eine Geschichte, Papa«, sagte Elena.
    Der lange Abend mit den vielen Stunden, die wir warteten, verging damit, dass Leandro und mein Vater Geschichten erzählten.
    Leandro sprach von seiner Kindheit in Armut, von dem ersten großen Smaragd, den er mit vierzehn im Abwasserschlamm der großen Mine von Muzo gefunden hatte, von seinem Bruder, der versprochen hatte, ihm den Stein in der Stadt zu Geld zu machen, und den er seitdem nie wieder gesehen hatte, und von seiner Erkenntnis, dass auf niemanden Verlass sei und er fortan größere Steine als die anderen finden müsse, wenn er reich werden wolle. Und das wollte er.
    Mein Vater erzählte von der paradiesischen Schönheit und Milde des Bodensees zwischen Alpen und Allgäu, von grünen Weiden, fetten Kühen und Segeljachten, von seinem Vater, der schon Chirurg gewesen war, von seinen Bergtouren in der Türkei und in Afghanistan, von der Wüste und Kamelen mit Höckern und dass er seine Frau, meine Mutter, auf der Akropolis in Athen kennengelernt hatte.
    Dann wollte Elena noch wissen, wie ihr Papa ihre Mama kennengelernt hatte.
    »Aber das weißt du doch«, sagte Leandro. »Das habe ich dir doch schon hundert Mal erzählt.«
    »Dann erzähl es noch mal. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Wie war das? Mama war eine Rucksacktouristin und sie hatte alles Geld verloren.«
    »Nein, man hatte es ihr geklaut. Gleich am ersten Abend in Bogotá, Travellerschecks, Scheckkarte, Bargeld, Pass, alles. Und sie saß im Regen und sah aus wie eine nasse Katze.«
    »Und du?«
    »Ich war damals ein armer Guaquero, der seine ersten großen Steine verkaufen wollte, und zwar an den größten Edelsteinhändler von Bogotá, und ich hatte keinen anständigen Anzug.«
    Elena kuschelte sich in die Armbeuge ihres Vaters und fragte: »Wozu brauchtest du denn einen Anzug?«
    »Aber Elena, das weißt du doch! Ich wollte, dass man mir einen anständigen Preis zahlt, nicht den, den man den kleinen Schlammgräbern zahlt, sondern einen, wie man ihn einem Mann zahlt, der eine Mine entdeckt hat und mit dem man auch künftig Geschäfte machen will. Deine Mutter hatte zwar kein Geld mehr und keine Schecks und sie konnte auch kaum vier Worte Spanisch, aber sie hatte in ihrem Rucksack zwei Bierkrüge aus München, und die ...«
    Wir lachten. »Bierkrüge aus München? Bierseidel?«, fragte mein Vater.
    »Ja, genau.« Leandro nickte. »Mit der Münchner Frauenkirche drauf und einer Inschrift vom Oktoberfest, und die konnten wir in einem dieser Trödelläden in La Candelaria verkaufen, und für den Erlös haben wir einen Anzug und

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