Der Ruf des Kolibris
Erschöpfung, der Schlamm, der sich in den verregneten tropischen Bergen ausbreitete wie eine Seuche, hing ihm nicht nur in den Kleidern, sondern sogar in den Haaren. Um seine Augen lag ein angestrengter Zug. Es schien ihn Mühe zu kosten, sich auf die heiter geschäftige Atmosphäre im Büro umzustellen und unsere erwartungsvollen Blicke auszuhalten. Einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, er könne sich kaum noch auf den Beinen halten, dann wieder wirkte er angespannt, geradezu kampfbereit. Seine Augen blitzten dunkel und fast feindselig, als er Leandro erblickte.
Ich fragte mich beklommen, was er in dieser Nacht gesehen, was er erlebt hatte, während wir gemütlich auf dem Lastwagen in die Stadt gezuckelt waren und uns in frisch bezogenen Betten zum Schlafen niedergelegt und morgens vergnügt geduscht hatten. Er sah aus, als müsste er viele böse Bilder vertreiben, bevor er uns richtig wahrnehmen konnte, die wir munter und froh vor ihm standen und uns irgendwie bedanken wollten.
Aber wofür bedankten wir uns wohl? Würden wir jemals wirklich ermessen können, was er in dieser Nacht für uns getan hatte? Dass unsere Befreiung für uns so harmlos und leicht ausgesehen hatte, musste nicht heißen, dass es dort, wo er sich aufgehalten hatte, friedlich zugegangen war. Er hatte zwar behauptet, die Indígenas von seinem Stamm der Nasas nähmen keine Schusswaffen in die Hand, aber auch Messer waren entsetzliche Waffen. Wollten wir es wirklich so genau wissen? Wollte ich es wissen?
Mein Vater, Elena und ihr Vater, und vermutlich auch ich, formulierten Worte des Dankes. Ich bekam es, wie gesagt, nicht wirklich mit. Ich sah eine frische Wunde auf Damiáns Handrücken und spürte körperlich seine Erschöpfung und seine ungeheure Fremdheit uns gegenüber.
Er griff sich in die Tasche seiner Wetterjacke und legte auf dem nächsten der Tische zwischen Prospekten, Papieren und neben einer der uralten schwarzen Schreibmaschinen ein Häufchen Uhren, Ringe, Geldscheine und Leandros Satellitenhandy ab.
»Meine Kette!«, rief Elena erfreut.
»Dann ist ja alles wieder gut«, sagte Rocío lächelnd.
Auch ihr Lächeln kam mir irgendwie fehl am Platz vor, unangemessen und verharmlosend. Die ernste Miene des Bärtigen mit dem Pferdeschwanz und den haarigen Armen, der stumm zuschaute, kam mir angemessener vor. Im Grunde waren wir naive Touristen, denen man nicht alles erzählen würde, nachdem sie durch eigene Dummheit nicht nur sich selbst, sondern eine Reihe anderer Leute, darunter Damián, in Schwierigkeiten gebracht hatten. Auch Leandro gehörte nicht mehr wirklich zum Volk, denn er war schon zu lange reich.
»Meine Tochter hat mir erzählt«, ergriff mein Vater schließlich das Wort, »dass deine Schwester krank ist.«
Zum ersten Mal streifte mich Damiáns Blick, nur kurz, aber mir rieselte es trotzdem heiß das Rückgrat hinab.
»Das ist richtig«, antwortete er wohlerzogen in seinem akkuraten Spanisch, das in so krassem Gegensatz stand zu seiner wilden, abgekämpften und verdreckten Erscheinung, »aber, ohne Ihre medizinischen Fähigkeiten infrage stellen zu wollen, Don Markus, fürchte ich doch, Ihre Tochter macht sich zu große Hoffnungen. Die Ärzte im Krankenhaus von Popayán haben ihr Bestes getan.«
Mein Vater lächelte fein und antwortete ebenso höflich. »Selbstverständlich will ich die Kenntnisse und Künste der hiesigen Kollegen nicht infrage stellen. Aber du hast uns heute einen großen Dienst erwiesen und ich würde mich gern erkenntlich zeigen. Wenn nur die kleinste Chance besteht, deiner Schwester zu helfen, würde ich sie gerne genutzt haben.«
Rocío lächelte und wedelte mit dem Scheck dazwischen. »Gespendet haben sie auch schon.«
Zwischen Damians Brauen erschien eine steile Falte. Seine Gesichtszüge hatten sich in den letzten Minuten etwas entspannt und belebt. Jetzt wurden sie erneut reserviert.
»Sie sind sehr großzügig«, erwiderte er. »Aber ...«
» Che, hombre! «, mischte sich da Leandro ein. »Wir machen keine Politik und wir führen keine Verhandlungen über die Rechte der Indígenas. Wir wollen dir nur das Leben ein bisschen erleichtern, weil wir dankbar sind. Ich weiß, das ist die Strafe für den, der hilft. Er muss danach auch noch die Dankbarkeit ertragen.«
Damián deutete ein Lächeln an.
»Komm, geben wir uns die Hände«, sagte Leandro und streckte ihm seine Pranke hin. »Schließen wir ... wenn nicht Frieden, dann einen Waffenstillstand, eh?«
Damián zögerte
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