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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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    I ch hatte viel Zeit, meinen Zweifeln nachzuhängen. Damián hätte schon gestern in Popayán sein sollen, hatte Rocío mir erklärt. Sein Onkel hatte nicht gewusst, wo er steckte, doch urplötzlich, just in dem Moment, wo ich ihn brauchte, war er aufgetaucht. Wieso auf einmal? Die einzige logische Erklärung war doch, dass er von dem Überfall auf uns gewusst hatte. Und dem Burschen, der mir die Uhr abgenommen hatte, hatte Damián sie nicht abgekauft, sondern weggenommen, um sie mir zurückzugeben. Deshalb hatte er auch nicht sagen wollen, was er dafür bezahlt hatte. Das war das Geheimnis seines Geschenks. Er hatte mir nur zurückgegeben, was einer seiner Leute mir geklaut hatte, wie vor drei Wochen schon mal das Seidenäffchen seiner Großmutter. Er wollte nicht als Dieb dastehen. Er hatte auch seinen Stolz. Und für etwas Geld nehmen, wofür er nichts bezahlt hatte, verbot sich ihm. Ansonsten interessierte er sich nicht für mich. Drei Wochen lang hatte er nichts von sich hören lassen, sich nicht einmal bei seiner Großmutter erkundigt. Wonach auch? Nach mir? Nein. Es waren nur meine blauen Augen, die ihn faszinierten. Mehr war da nicht. Es gab nicht viele blaue Augen in den Höhen der Anden.
    Und irgendwann im Laufe dieser Nacht würden wir, Papa, Leandro, Elena und ich, seine Gefangenen sein. Wir würden es nur nicht gleich merken.
    Antonio hatte es mit ziemlich unbewegtem Narbengesicht hingenommen, dass Damián mich und ich ihn, Antonio, auf morgen vertröstet hatte, und mich in die Herberge zurückgefahren. Am Nachmittag waren bewaffnete Leute erschienen, mit denen er davongefahren war, ohne Erklärungen abzugeben.
    Elena jammerte beim Abendessen, dass sie morgen an ihrem Geburtstag nicht in Inza sein würde, fand sich dann aber damit ab und erklärte: »Wenn wir dafür Damiáns Schwester Clara retten, dann ist es das wert.«
    Ich überlegte währenddessen fieberhaft, ob ich meinem Vater und Leandro meine Zweifel an Damián mitteilen musste. Aber was, wenn ich mich irrte? Dann hätte ich wieder einen schändlichen Verdacht gegen ihn geschürt.
    »Wie hätte eigentlich«, überlegte mein Vater, als wir nach dem Abendessen im Zimmer von Leandro und meinem Vater saßen, »Antonio Damián hierherbringen wollen? Ich meine, Damián hätte ihn doch erkannt und wäre nicht mitgegangen, wenn Jasmin ihn zu Antonio gebracht hätte.«
    Deutsche Logik, wie mir schien, denn Leandro fand das kaum einen zweiten Gedanken wert. »Antonio hätte ihm eine Waffe ins Gesicht gehalten und ihn gezwungen oder er hätte Jasmin die Pistole an die Schläfe gehalten und ihn so gezwungen. Oder er hätte gleich geschossen.«
    Ein Menschenleben war nicht viel wert in Kolumbien. Vielleicht hatte uns wirklich nur die Kirche geschützt.
    »Denken Sie, dass Antonio meine Geschichte glaubt?«, erkundigte ich mich.
    Leandro zuckte mit den Schultern. »Warum sollte er deine Geschichte nicht glauben? Warum soll Damián nicht noch Vorbereitungen treffen müssen für die Reise in die Berge? Ein Auto beschaffen, Pferde ... «
    Die Nacht war längst gefallen, schnell und umstandslos, beinahe ohne Dämmerung, wie üblich in diesen Breiten. Wir hatten nur eine Petroleumlampe als Licht, die auf einem wackligen Tisch stand. Elena hatte sich an ihren Vater gekuschelt. Er hatte den Arm um sie gelegt und rauchte. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt so in die Achsel meines Vaters gekuschelt gelegen hatte. Jedenfalls nicht mehr nach meinem zwölften Lebensjahr. Mein Vater war kein Papa zum Kuscheln. Ich weiß nicht, wann das angefangen hatte mit dieser Befangenheit zwischen ihm und mir. Er schaute mich auch anders an als früher, so als wäre ich ihm ein bisschen fremd geworden. Einmal hatte ich meine Mutter zu ihm sagen hören, ich sei schon recht fraulich geworden. »Fraulich!«, ein Wort, das ich seitdem hasste, denn ich ahnte, dass es das war, was Papa und mich dazu zwang, vorsichtig und distanziert miteinander umzugehen, und was ihn befangen machte, wenn er den Arm um mich legen sollte. Und mich auch. Und jetzt, nachdem ich vor ein paar Stunden erst Damiáns verwirrende Nähe, den bezwingend zärtlichen Griff seiner Hand an meinem Kinn und seine Finger auf meiner Haut gespürt hatte, verstand ich auf einmal, dass mein Vater eben auch ein Mann war und ich eine Frau.
    Plötzlich fühlte ich mich sehr erwachsen. Und das Wort »fraulich« hatte seinen hässlichen, mütterlich diagnostischen Beigeschmack verloren. Auf einmal bedeutete es

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