Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
Anden abgenommen. Damián musste Kontakt zu dieser Gruppe oder zumindest zu diesem einen jungen Kämpfer haben, wie sonst hätte er in den Besitz dieser Uhr gelangen können? Doch wenn das so war, dann war alles Lüge, was er mir hier gerade vorspielte: dass er uns befreien werde, dass er niemals eine Schusswaffe anrührte. Wenn er zu der Bande gehörte, die uns gefangen hielt, dann konnte es Antonio auch nicht auf ihn abgesehen haben, dann ging es um etwas ganz anderes. Dann war die Falle eigentlich für Leandro, den Großen Schatzsucher, aufgestellt, einen der reichsten und mächtigsten Männer von Kolumbien. Und wir würden mitten in die Falle laufen, wenn wir uns Damián anvertrauten, wenn wir uns von ihm und seinen Leuten zum Schein befreien ließen und mit ihm in die Berge reisten, um seine kranke Schwester Clara zu besuchen. Wir würden uns gewissermaßen freiwillig in die Hände der Banden mit den Gummistiefeln begeben, welche die Nebelberge kontrollierten.
    Die Kirchenbänke nahmen die Mitte des barocken Kirchenschiffs ein, deshalb gingen wir an den Pfeilern und Arkaden entlang zum Ausgang. Aber ich hatte keinen Blick für die Pracht der Kirche. Damiáns Gegenwart nahm all meine Sinne ein, und die waren schon verwirrt genug. Mein Verstand, soweit ich über ihn noch verfügte, schwankte zwischen Misstrauen und ungläubigem Staunen: Würde Damián mir so was wirklich antun, mich und meinen Vater als Geiseln nehmen, nur um Leandro Perea zu bekommen? Aber andererseits, was kümmerte ich ihn denn, ich, eine verwirrte Deutsche, die sich in einen Indio verguckt hatte. Keineswegs musste er dasselbe für mich empfinden wie ich für ihn. Wie oft hatte ich bei meinen Klassenkameradinnen schon beobachtet, dass die große Liebe etwas sehr Einseitiges sein konnte.
    Und gleich würde Damián sich von mir verabschieden, sich umdrehen und in den Gassen verschwinden und wieder war nichts geklärt, und noch immer wusste ich nicht, wer er war und was er mir verschwieg. So viele Dinge waren zwischen uns ungesagt geblieben und würden nie gesagt werden. Ich würde ihn verlieren, hatte ihn schon verloren, hatte ihn nie besessen. Es war alles nur ein kurzer Traum gewesen, aus dem aufzuwachen ungeheuer wehtat, körperlich. Mit taten alle Glieder weh und es fiel mir schwer zu atmen.
    »Ach ja«, sagte Damián, als wir unter die Säulen hinaustraten, und drehte sich zu mir um. »Deine Uhr!« Er löste Simons Uhr von seinem Handgelenk und reichte sie mir. »Ich habe sie heute Nacht in den Bergen auf dem Weg hierher einem jungen Kerl abgekauft. Es ist doch deine, nicht wahr?«
    Mir schwindelte. Es war die einfachste Erklärung. Aber war es auch die Wahrheit?
    Zum zweiten Mal nahm ich Simons Uhr, das Pfand meiner Rückkehr nach Deutschland, aus seiner Hand entgegen, zum zweiten Mal hatte Damián sie mir gerettet und bewahrt.
    »Aber ...«, stammelte ich, während ich sie mir ums Handgelenk schnallte. »Wo hast du ...?«
    »Steck sie lieber in die Tasche«, unterbrach er mich lächelnd. »Damit Don Antonio sie nicht sieht.«
    Richtig! Etwas beschämt über meine Unvorsichtigkeit nahm ich die Uhr wieder ab und steckte sie in meine Jackentasche. »Was hast du dafür bezahlt, Damián? Ich gebe es dir zurück. Sobald ich wieder Geld habe.«
    Damián hob die Hände und lächelte. »Nein, das wirst du nicht tun.«
    »Du musst mir sagen, was du dafür bezahlt hast, Damián! Ich möchte nicht, dass du ...«
    »He, Jasmin!« Seine Stimme klang sehr bestimmend. »Wo denkst du hin? Nimm es als Geschenk. Mehr kann ich dir nicht geben.«
    Ich spürte seine warme Hand an meinem Kinn, sein Daumen strich sanft, aber unnachgiebig über meinen Kiefer, sein Blick tauchte tief in meinen. Ich konnte ihm nicht ausweichen. Alles um mich herum, die Kathedrale, der Platz, die Menschen, verschwand, versank, verflog. Für einen Augenblick gab es nur uns beide auf dieser Welt, wir waren blind für alles andere. Sein Blick aus tintenschwarzen Augen saugte sich fest an meinem. Ich wollte mich losmachen, konnte es aber nicht.
    »Hab keine Angst, Jasmin«, murmelte er. »Ich habe nur noch nie Augen gesehen, die so blau sind wie deine. Blau wie der Himmel. Sie sind wunderschön, weißt du das?«
    Im nächsten Moment ließ er mich los, drehte sich um, sprang die Stufen hinunter und eilte davon. Im Nu war seine Gestalt mit den schmalen Hüften und den breiten Schultern im blauen Hemd zwischen Touristen, Händlern und herumrennenden Kindern verschwunden.

de

– 15

Weitere Kostenlose Bücher