Der Ruf des Kolibris
Schuhe für mich erstanden. Die Idee, die Seidel zu verkaufen, kam von mir, eigentlich hatte Sandra sie einer Familie mitbringen wollen, die in Bogotá lebte, die sie aber nicht gefunden hatte, denn die Adresse war falsch oder die Familie war woanders hingezogen. Ich habe Sandra überredet, das Geld für einen Anzug für mich auszugeben, denn wenn ich damit meine Smaragde teuer verkaufen könnte, dann würde sie das Geld doppelt von mir zurückbekommen, und so habe ich es gemacht. Sie hat mir vertraut und ist bei mir geblieben.«
»Einfach so?«, fragte mein Vater nach.
»Sie war volljährig«, antwortete Leandro. »Und sie war frei, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und sie hat es nicht bereut, denke ich.«
»Und ihre Eltern?«
»Sandra ist bei ihrer Tante aufgewachsen. Ihre Mutter war Geschäftsfrau und musste viel reisen, ihren Vater kennt sie nicht.«
»Oma hat uns auch einmal besucht«, ergänzte Elena. Sie lachte. »Ich glaube, wir haben sie ganz schön beeindruckt, nicht wahr, Papa? Mit unseren Hubschraubern und deinem Jet und all dem.«
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein. Mein Vater rüttelte mich wach. Elena und Leandro standen im Zimmer und lauschten. Ich zog meine Uhr aus der Jackentasche. Im flackernden Licht der Petroleumlampe konnte ich gerade so erkennen, dass es kurz vor Mitternacht war. Man hörte gedämpfte Stimmen unten im Haus. Ein Auto war in den Hof gefahren, wie mir Elena aufgeregt wispernd mitteilte. Ich glaube, dass wir alle insgeheim darauf warteten, dass Schüsse fielen. Aber es kamen nur zwei junge Männer, die sich in nichts von unseren Bewachern unterschieden, nur dass sie, wenn man genau hinschaute, vielleicht indianischer aussahen.
»Ihr seid die Deutschen?«, fragten sie. »Wir kommen von Damián. Kommt mit.«
»Wo ist Damián?«, fragte Leandro.
»Er hat uns geschickt. Kommt mit. Schnell!«
Wir blickten Leandro an, den Einzigen unter uns, der irgendwelche Erfahrungen mit Situationen hatte, die man schwer einschätzen konnte. Er nickte. Wir packten unsere wenigen Habseligkeiten, darunter die beiden Arztkoffer meines Vaters, und folgten den beiden Jungs. Unten in der Herberge standen noch vier von ihnen. Sie hatten unseren fünf Bewachern die Gewehre abgenommen. Die fünf Guerilleros blickten ziemlich verdutzt drein. Vermutlich waren sie im Schlaf überrascht worden.
Im Hof stand ein Lastwagen mit Plane. Wir stiegen hinten auf die Pritsche, die vier Indios aus der Rezeption sprangen dazu, die beiden anderen stiegen vermutlich vorne ein, und schon rollte der Laster vom Hof auf die glatte Straße, die direkt nach Popayán hineinführte.
Eine Stunde später befanden wir uns bereits in einem strahlend weißen Hotel, einem absoluten Nobelschuppen für hiesige Verhältnisse. Es hieß La Plazuela und verfügte über zwei Stockwerke und den hier absolut notwendigen Patio, den Innenhof. Es gab elektrisches Licht, 24 Stunden heißes Wasser, frische Bettwäsche und eine Minibar im Zimmer. Luxus pur. Die Jungs, die uns befreit hatten, verschwanden ohne weitere Erklärungen.
»So einfach ist das?«, fragte mein Vater.
»Nicht immer«, antwortete Leandro.
»Und wo ist Damián?«, erkundigte sich Elena.
Darauf wusste niemand eine Antwort.
»Gehen wir schlafen«, sagte mein Vater. »Der wird schon auftauchen, wenn wir seine Schwester behandeln sollen.«
Das laute Leben unten in den Gassen der Altstadt begann mit Sonnenaufgang gegen sechs Uhr.
Vom Hotel aus riefen wir am Morgen zunächst meine Mutter an.
»Wir mussten den Hubschrauber stehen lassen und mit Autos weiter«, erklärte mein Vater. »Da hatten wir kein Netz. Und jetzt sind wir in einem tollen Hotel unterbracht, mitten in der Altstadt.« Kein Wort über Paramilitärs, Entführung und Befreiung. Er blinzelte mir zu, als er mir das Telefon gab. Dass er so unverschämt lügen konnte, war mir neu.
»Seid vorsichtig!«, ermahnte Mama mich, »schlaft nur unter Moskitonetzen, hörst du?«
Was Elena ihrer Mutter erzählte, hörte ich nicht. Anschließend telefonierte Leandro seinem Hubschrauber hinterher, aber das Wetter auf der Ostseite der Anden war noch zu schlecht, als dass der Hubschrauber in Campoalegre starten konnte, und es würde sich in den nächsten drei Tagen vermutlich auch nicht wesentlich bessern.
Wir saßen erst einmal fest, es sei denn, wir wollten in Autos die Fahrt zurück in die Berge und hinauf nach Inza wagen. Mein Vater hätte es wohl gewagt, aber Leandro war strikt dagegen. Ein zweites
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