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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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sagte Elena kleinlaut.
    »Wenn man von jedem Menschen immer erst einmal das Schlimmste annimmt, wird man niemals vorwärtskommen im Leben«, sagte mein Vater. »Misstrauen erzeugt immer nur Misstrauen. Im Vertrauen liegt das Wunder des Lebens.«
    Noch nie hatte ich meinen Vater solche Sätze sagen hören. Natürlich wusste ich, dass er seine Prinzipien hatte, aber Simon und ich, wir hatten seine pathetische Ader immer nur als Sozialromantik bespöttelt. Er war zu gut für diese Welt, hatten wir befunden, er ignorierte einfach, dass es schlechte Menschen gab, er konnte es sich leisten, denn er war Arzt, und die Menschen waren auf seine Hilfe angewiesen. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er unsere Lage völlig falsch einschätzte. Im Gegenteil. Leandro, Elena und ich hatten irgendwie den Kopf verloren, vielleicht aus Erschöpfung, aber mein Vater nicht. Ich war auf einmal sehr stolz auf ihn. Und ich schämte mich meines Kleinmuts und Misstrauens. Auf Elena machten seine Worte ebenfalls Eindruck. Leandro war sicherlich nicht so leicht zu beeindrucken, aber er hatte sich ja ohnehin entschieden, den Weg fortzusetzen.
    »Also, was ist?«, fragte mein Vater in die Stille. »Umkehren oder weitergehen? Wir haben die Wahl.«
    »Wir gehen weiter«, sagte ich. »Wir halten unser Versprechen.«
    Elena nickte tapfer.
    Damián war inzwischen auf der anderen Seite angekommen. Er hatte die Pferde an den nächsten Baum gebunden, stand an der Geröllhalde und wartete auf uns.
    Mein Vater betrat als Erster die abschüssige Fläche. In der Bergsteigersprache nannte man das den Vorsteiger. Er war allerdings schon lange nicht mehr auf Tour gegangen. Ich konnte mich noch dunkel erinnern, dass meine Mutter, wenn er in den Alpen unterwegs war, das ganze Wochenende in Angst verbracht hatte, zittrig, nervös und hektisch, bis er endlich wiederkehrte. Ich denke, er hat seine Kletterei gelassen, weil er ihr diese Angst nicht mehr zumuten wollte. Vielleicht hatte auch der Tod von Simons Vater im Himalaja ein wenig dazu beigetragen, dass er auf riskante Unternehmungen verzichtete.
    Aber es war wirklich nicht schwierig, den Geröllhang zu überqueren. Die Steine waren zwar glitschig, aber fest verkeilt. Auch wenn meine Sneakers und Elenas Chucks nicht unbedingt für Kraxeleien gemacht waren. Papa hatte immerhin seine üblichen Schnürboots an und Leandro Schaftstiefel mit ordentlichen Sohlen.
    Einmal schrie Elena auf, weil ein Stein abrutschte und in die Tiefe kollerte, aber sie blieb aufrecht. Beängstigend waren eigentlich nur der Blick hinauf, die endlose schroffe Halde aus Stein und Fels, der sich hoch über uns aus einer Wand gelöst hatte, nackt und drohend in den Himmel ragte, und der Blick nach unten, wo Nebel ein Ende des Abhangs und die Tiefe verhüllte, in die man stürzen konnte.
    Auf einmal war es mir peinlich, dass wir, ängstlich und auf Sicherheit bedacht, angeseilt gingen, während Damián frei und sorglos über den Hang gelaufen war. Ich kam mir feige vor. Noch beschämender als die Angst, in die Tiefe zu rutschen, schien mir meine Angst vor Damián, vor dem düsteren Geheimnis seiner Existenz, vor dem ich gerade eben eingeknickt war, überwältigt von der Angst Elenas und den Behauptungen Leandros über das Gemetzel der Nacht, für das es keinerlei Beweise gab. So schnell hatte ich mich einwickeln lassen und Damián mein Vertrauen aufgekündigt! Was war meine Liebe wert, wenn ich sofort bereit war, das Schlimmste von ihm anzunehmen? Ohne ihn zu fragen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, dass er sich verteidigte? Ich hatte ihn einfach verurteilt.
    Gott, war das alles schwierig! Ungeheuer schwierig. So schwierig hatte ich mir die Liebe nicht vorgestellt.
    Ein Stein gab unter meinem Fuß nach und klackerte in die Tiefe. Ich musste mich am Seil festhalten. Elena schrie auf. Mein Vater griff nach mir. »Aufpassen, Jasmin!«
    Als ich wieder nach vorn blickte, war Damián zwei Meter auf uns zugekommen, angespannt und heftig atmend. Im nächsten Moment entspannte er sich, drehte sich um und ging zurück. Am Waldrand war ein kleines Mädchen erschienen, vielleicht fünf Jahre alt. Es bohrte sich in der Nase und schaute uns mit großen Augen zu. Damián ging in die Hocke, strich ihm über das struppige schwarze Haar und redete mit ihm. Das Kind nickte.
    Doch ich hatte den Eindruck, dass er sich nur deshalb so intensiv mit der Kleinen beschäftigte, weil er nicht mehr zuschauen konnte, wie wir den Hang entlangkippelten. Dennoch schien er

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