Der Ruf des Kolibris
ehrlich mit uns meint. Denn uns schuldet er ja nichts, während wir ihm unser Leben schulden, so wie es aussieht.«
Auf Deutsch hieß das: vom Regen in die Traufe. Aber mir fiel die Übersetzung nicht ein. Und eigentlich wollte ich es auch gar nicht aussprechen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass wir Geiseln von Damián sein sollten.
»Dann verstehe ich jetzt«, sagte Elena mit Angst in der Stimme, »warum wir so überstürzt aufbrechen mussten. Er wollte nicht, dass wir erfahren, was mit Antonios Leuten passiert ist.«
»Wahrscheinlich gab es keinen anderen Weg«, überlegte Leandro. »Während Antonio und seine Leute mit dem Scharmützel abgelenkt waren, konnte man uns in aller Ruhe aus der Herberge holen, ohne Gefahr, dass Verstärkung anrückte.«
Die glückliche Erregung, die eben noch in mir gegluckert hatte wie ein klarer Quell, versiegte. Die böse Realität der Berge Kolumbiens hatte mich endlich eingeholt und kroch mir eisig in die Glieder. Es hatte so stolz und selbstsicher geklungen, als Damián mir erklärte, dass die Indianer seines Stammes keine Schusswaffen trugen, es hatte klug und pazifistisch geklungen, so als gäbe es ein Häuflein Vernünftiger und eine Chance auf Frieden in diesem Land, in dem jeder gegen jeden kämpfte. Aber es war eine Lüge gewesen, ein schöner Traum, eine Illusion. Im besten Fall hatte er mich beschwichtigen wollen, mich, das naive Mädchen aus Deutschland, das man mit den Gewalttätigkeiten dieses Landes nicht erschreckte. Im schlechtesten Fall hatte er mir den guten Menschen mit Prinzipien vorgespielt, um uns in seine Gewalt zu bringen, aber nicht mich, denn mein Vater und ich waren nichts wert verglichen mit Leandro Perea, El Gran Guaquero.
»Los, weiter!«, sagte Leandro.
»Und wenn wir einfach umkehren?«, fragte Elena.
»Und mein Vater?«, rief ich.
Leandro schüttelte den Kopf. »In zwei Stunden wird es dunkel. Bei Nacht finden wir den Rückweg nicht. Außerdem, wie könnten wir Markus allein lassen ...«
»Er ist Arzt!«, sagte Elena. »Ihm werden sie nichts tun. Sie lassen ihn bestimmt wieder laufen. Sie wollen doch nur dich!«
»Elena!«, donnerte ihr Vater. »Was soll denn Jasmin von dir denken?«
Elena senkte den Blick. »Entschuldige, Jasmin«, murmelte sie.
»Ich habe auch Angst«, antwortete ich.
»Los dann!«, forderte uns Leandro erneut auf. »Nicht, dass wir noch den Anschluss verlieren. Und solange das Telefon funktioniert, sind wir nicht verloren. Ich habe GPS, ich kann meinen Leuten immer haargenau sagen, wo wir sind.«
de
– 17 –
N ach fünf Minuten hatten wir meinen Vater und Damián an einem steinigen Hang eingeholt. Sie warteten auf uns.
»Gab’s ein Problem?«, fragte mein Vater auf Deutsch.
Elena und ich schüttelten den Kopf. Aber wir sahen vermutlich ziemlich betreten aus. Papas graue Augen trafen meine, er zwinkerte kurz. Seit meiner Kindheit war das ein Zeichen, dass er wusste, was los war, und ich mir keine Sorgen machen sollte. Meistens, wenn ich ihn später gefragt hatte, was er denn geglaubt hatte, was mir Sorgen machte, hatte er richtig gelegen. Für einen Moment fühlte ich mich tatsächlich beruhigt. Aber schon einen Augenblick später machte ich mir klar, dass Papa nicht wissen konnte, was Leandro bei seinem Telefongespräch mit seinen Bodyguards erfahren hatte. Diesmal lag mein Vater falsch. Ich wünschte, es wäre nicht so gewesen. Zum ersten Mal fühlte ich mich trotz der Gegenwart meines Vaters verlassen und verloren. Auf einmal wusste ich, dass auch er nicht allwissend und allmächtig war und keineswegs all das, was mir Sorgen bereitete, wieder in Ordnung bringen konnte. Es war traurig, ungeheuer traurig. Ich war wieder ein Stück erwachsen geworden, und es fühlte sich nicht so aufregend und abenteuerlich an wie in der vergangenen Nacht, als wir in der Herberge auf unsere Befreiung gewartet hatten und Elena sich an ihren Vater gekuschelt hatte und mir plötzlich klar geworden war, dass ich nicht mehr Papas kleine Tochter war, sondern eine junge Frau mit einem Körper, für den sich ein junger Mann wie Damián interessierte. Da hatte ich mich frei und mutig gefühlt, meine Zukunft anzugehen. Jetzt spürte ich, was ich dabei verlor. Nicht einmal mehr mein Vater, der Arzt, der alles heilte, Körper und Seele, konnte mir Sicherheit geben. Er hatte aufgehört, mehr zu wissen als ich.
Was mich noch mehr schmerzte, war, dass ich zugleich Damián verloren hatte, zumindest meine Illusionen über ihn.
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