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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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was ihm sichtlich angenehmer war, als auf dem Boden zu hocken wie Clara.
    Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so offenkundig krank aussah wie sie. Claras feines und kluges Gesicht war sehr blass, fast grau. Ihre Haut war rau und fleckig. Sie sah müde und mutlos aus und rieb sich Hände und Beine, als würden sie kribbeln und stechen. Und trotzdem lächelte sie ihrem Bruder und mir herzlich und offen entgegen.
    Wir setzten uns auf den Boden.
    »Was gibt’s?«, fragte ich.
    Mein Vater zögerte. Er wollte Clara das Wort überlassen. Aber sie wusste offenbar nicht, wie sie beginnen sollte.
    »Ich habe Clara gerade erklärt, was ich vermute und welche Konsequenzen das hat«, ergriff mein Vater schließlich das Wort.
    Damiáns Blick ruhte besorgt und zärtlich auf seiner Schwester. Sie wirkte, wenn man die beiden so nebeneinander sah, älter und reifer als er. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie so krank war.
    »Ja, er hat mir alles erklärt«, sagte sie. »Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Ich weiß jetzt, womit ich rechnen muss.«
    »Ich habe ihr versucht zu erklären«, ergänzte mein Vater, »dass sie ins Krankenhaus muss, damit wir eingehende Untersuchungen machen können. Dass ich sie mitnehmen möchte nach Bogotá.«
    Clara schüttelte lächelnd den Kopf.
    Zwischen Damiáns Brauen stand wieder die steile Falte. »Wenn du gesund werden willst, dann geht es nicht anders«, sagte er.
    Clara blickte ihren Bruder an, eindringlich und lange. Er senkte den Blick und fing an, mit einem Stöckchen Kreise in den Boden zu zeichnen.
    »Was die Kosten betrifft«, argumentierte mein Vater, »so haben wir in San Vicente, dem Krankenhaus, wo ich arbeite, einen Fonds für solche Fälle. Die Erstbehandlung ist gesichert. Und dann sehen wir weiter.«
    Damián hob die Augen und blickte seine Schwester bittend an. Aber sie lächelte ruhig und bestimmt und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich fühle mich sehr geehrt«, sagte sie. »Aber ich bin doch nur ein Mädchen aus den Bergen. Solche wie mich gibt es viele. Wenn man für jede so einen Aufwand treiben würde ... Ich weiß schon lange, dass ich bald sterben muss. Das macht mir keine Angst.«
    Ich war perplex. Versuchte sie meinem Vater und mir zu erklären, sie sei es nicht wert, dass man sich um ihre Gesundheit kümmerte? An dem Blick, mit dem mein Vater meinen Blick erwiderte, erkannte ich, dass er vergeblich versucht hatte, Clara ihre Chancen klarzumachen.
    »Aber du könntest leben«, sagte Damián. Er klang, als hätte auch er es schon ein paarmal vergeblich versucht. »Möchtest du das denn nicht?«
    »Und du könntest«, ergänzte ich, »viel machen, wenn du in Bogotá bist. Und wir könnten in Konzerte gehen.«
    Claras Blick aus diesen unheimlich trüben Augen richtete sich auf mich. Aufmerksam und unverwandt musterte sie mein Gesicht. Und urplötzlich verstand ich sie. Wir waren gar nicht so verschieden, sie und ich. Sie war ein Mädchen wie ich, sie hatte Sehnsüchte und Träume, sie war nicht dümmer als ich, nicht primitiver, sie hatte die gleichen Gefühle wie ich und sie war unglücklich.
    Es war ein Fehler zu denken, sie müsse zufrieden sein mit dem Leben hier oben im Rauch des offenen Herds, unter den Wolken, zwischen Lamas und Nebel. Ich wäre es nicht gewesen, warum sollte sie es sein? Vielleicht träumte sie davon, eine große Musikerin zu werden oder Medizin zu studieren oder Bücher zu schreiben oder Lehrerin zu werden und die Kinder ihrer Landsleute zu unterrichten. Vielleicht träumte sie auch von weiten Reisen, hübschen Kleidern, einem reichen Mann und einem Haus mit Swimmingpool. Ich wusste nicht, wovon sie träumte, aber ich wusste plötzlich: Hier oben wollte sie nicht ihr ganzes langes Leben verbringen. Es ödete sie an, es deprimierte sie, es machte sie krank vor Langeweile und Einsamkeit. Niemand musste viel Geld dafür ausgeben, dass sie weiter Alpakas scheren und Pullover stricken oder auf die Kinder ihrer Cousinen aufpassen konnte. Dafür musste sie nicht gesund werden.
    Ich fragte mich, was ich ihr sagen musste, was sie hören wollte, um wieder Mut zu schöpfen. Was brauchte sie wirklich? Ich fragte mich, was ich mir in den Momenten immer gewünscht hatte, wenn ich unzufrieden, unglücklich und mutlos gewesen war, weil ich mir wieder einmal hässlich, ausgegrenzt und gänzlich überflüssig vorkam und mich fragte, wofür ich eigentlich lebte. Etwa damit ich so wurde wie meine Eltern? Arbeit, Karriere, Erschöpfung,

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