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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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weggegangen, weil Tano der Ansicht ist, eine Frau kann keine Heilerin sein, bestenfalls eine Hexe. Meine Großmutter hat bei den großen Medizinmännern in Peru und Bolivien gelernt. Mein Onkel kann nichts gegen sie ausrichten, er fürchtet ihre Macht. Deshalb wird er alles tun, um zu verhindern, dass ich zu ihr nach Bogotá komme. Ich möchte nicht, dass ihr in Gefahr geratet. Schon die Lehrerin aus Deutschland muss meinetwegen leiden. Sie wird in Geiselhaft sterben, weil sie mir den Traum in den Kopf gesetzt hat, meine Familie zu verlassen und Meeresbiologie zu studieren.«
    Ich ahnte, was in Clara vorging. Der Schock hatte sie gelähmt und ihren Lebenswillen gleich mit vernichtet. Sie hatte Angst vor ihrem Onkel, und sie hatte Schuldgefühle, weil eine deutsche Lehrerin, die sie gemocht hatte, entführt worden war.
    »Aber diese Susanne Schuster ist doch sicherlich nicht deshalb entführt worden«, versuchte ich sie zu trösten. »In Kolumbien sind mehr als tausend Menschen Geiseln diverser Banden. Da geht es einfach nur um Geld.«
    Clara antwortete mit einem langen traurigen Blick.
    »Und deshalb musst du mit uns kommen, Clara. Du darfst nicht sterben, nur weil dein Onkel nicht will, dass du ein eigenes Leben führst. Das bist du dir schuldig! Und was hast du zu verlieren? Dein Leben hast du schon verloren, wenn du bleibst. Schlimmer kann es nicht kommen.«
    Clara lächelte mich an und nahm meine Hand. »Du erinnerst mich an Susanne. Sie hat auch so geredet. Man muss die Familie achten, hat sie gesagt, aber die Familie muss auch meine Wünsche achten. Und wenn nicht, muss man kämpfen.«
    »Ich stecke nicht in deiner Haut«, antwortete ich. »Und ich weiß nicht, ob ich wirklich den Mut hätte, mich gegen meine Eltern zu stellen und ein ganz anderes Leben anzustreben. Aber wenn du mich fragst, was ich tun würde, dann würde ich sagen: Ich würde es wenigstens versuchen.«
    Clara nickte. »Aber ich weiß nicht, ob ich für die Reise stark genug bin.«
    »Wenn mein Vater sagt, es geht, dann wirst du es schaffen«, antwortete ich.
     
    Eine Stunde später brachen wir auf. Damián schlug uns einen anderen Rückweg vor als den, den wir gekommen waren. Einerseits konnten wir so den gefährlichen Geröllabhang und manch andere unwegsame Stellen umgehen, andererseits war er deutlich länger und wir würden womöglich irgendwo in der Wildnis übernachten müssen.
    »Und wir werden deinen Onkel Tano überlisten«, sagte ich, als Damián zu mir ans Pferd trat und mir beim Auflegen und Festzurren des Sattels half.
    »Auch das«, erwiderte er. Für einen Moment berührten sich unsere Hände. »Aber hab keine Angst vor meinem Onkel Tano. Er wird sich nicht direkt gegen mich stellen. Er wird Clara nicht mit Gewalt zurückholen. Sonst müsste er mich töten. Und das wagt er nicht, solange unsere Mama Lula Juanita lebt. Er hat viel zu viel Angst, sie könnte ihn mit einem Fluch belegen.«
    Da Clara mit uns ritt und wir das Packpferd nicht nur für die Arztkoffer meines Vaters, sondern auch für den Beutel mit Claras Sachen brauchten, fehlte uns ein Pferd. Mein Vater bestand darauf, zu Fuß zu gehen. Das war ihm als altem Bergsteiger sowieso lieber als zu reiten. Außerdem tat ihm der Hintern immer noch weh von dem gestrigen Ritt. Also schwang Damián sich wieder auf sein Pferd und setzte sich an die Spitze.
    Die Kinder begleiteten uns noch ein gutes Stück des Wegs, der auf der entgegengesetzten Seite, von der wir gestern gekommen waren, aus dem Hochtal in die bewaldeten Hänge führte. Erst nach einer Stunde kehrten die Kinder wieder um.
    Ich musste währenddessen mein mimisch gegebenes Versprechen einlösen, Elena alles zu erzählen. Sie bestand darauf, zu erfahren, was Damián und ich allein da oben auf der Weide gemacht hatten.
    »Er liebt dich, stimmt’s?«, drängte sie mich. »Hat er dich geküsst? Oder ist er noch weiter gegangen?«
    »Elena! Sei nicht kindisch!«
    Sie kicherte. »Nimm dich in Acht, Jasmin. Die Indiomänner lieben es, Kinder zu zeugen, aber wenn sie zahlen sollen, dann sind sie verschwunden.«
    »Damián respektiert mich«, verteidigte ich mich.
    »Ja, ja! Du bist für ihn die schönste Frau der Welt, eine Göttin. Die Männer erklären dir immer, wie sehr sie dich respektieren und dass sie nie etwas tun würden, was du nicht willst. Dann werden sie immer drängender und drängender. Und bums! Glaub mir! Ich kenne die Indios besser als du.«
    Elenas Ton gefiel mir nicht. Aber ich beschloss, die

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