Der Ruf des Kolibris
Streitereien am Abendbrottisch. Sie hatten es ja selbst nicht ausgehalten und deshalb noch einmal ausbrechen müssen, um ein Jahr lang in einem Drittweltland die Erfahrung zu machen, dass man sie brauchte.
»Vielleicht«, sagte ich, »braucht deine Zukunft dich noch.«
Ich spürte, wie Damián mich forschend anblickte. Aber ich zwang mich, Claras nachdenklichen Blick auszuhalten.
Auf einmal richtete sie sich etwas auf. »Darf ich dich einmal etwas Persönliches fragen?«
Ich nickte.
Sie warf meinem Vater einen kurzen zweifelnden Blick zu.
»Papa«, sagte ich. »Könntest du uns mal kurz alleine lassen? Und Damián, du auch? Das ist was unter Frauen.«
»Oh, ja, natürlich!« Hastig und etwas verlegen stand mein Vater auf. »Dann schauen wir mal, ob es noch Kaffee gibt.«
Auch Damián erhob sich.
»Dein Vater ist ein guter Mann«, sagte Clara, nachdem die beiden zum Feuer gegangen waren.
»Ja, das ist er. Und Damián liebt dich auch sehr.«
Sie nickte. »Du magst deinen Vater, nicht wahr?«
»Ja.«
»Aber wenn dein Vater nun etwas von dir verlangen würde, was du nicht richtig findest? Oder wenn er dir etwas verbieten würde, was du unbedingt tun willst? Was würdest du dann tun?«
»Das kommt darauf an ...«
»Wenn es dir wichtiger ist als alles andere, als dein Leben?«
Vor vier Wochen wäre meine Antwort darauf ziemlich theoretisch gewesen. Aber da hatte ich Damián noch nicht gekannt und noch nicht gewusst, dass niemand, auch meine Eltern nicht, mir verbieten konnten, ihn zu lieben. Und dass sich weder mein Vater noch meine Mutter zwischen uns stellen konnten. Sie hatten in diesem Punkt keine Macht mehr über mich.
»Ich würde versuchen, es meinem Vater zu erklären«, sagte ich. »Und wenn er es nicht versteht, dann würde ich ... ich würde meinen eigenen Weg gehen. Es ist mein Leben!«
Clara blickte nachdenklich drein.
»Was ist das, was dir so wichtig ist?«
Sie lachte verlegen. »Wir hatten eine Lehrerin. Sie hat hier in der Gegend Schulunterricht gegeben. Viele Familien lassen ihre Mädchen nicht in die Schule gehen. Aber Susanne kam zu uns. Sie ist aus Deutschland zu uns gekommen. Von so weit weg! Und nur, damit wir, meine Cousinen und ich und ein paar andere aus den Bergen, mehr als lesen, schreiben und rechnen lernen konnten. Sie hat von anderen Ländern erzählt, von Menschen, die ins Weltall fliegen, von solchen, die Eisenbahnen und große Brücken bauen, die mit Mikroskopen ins Innere der menschlichen Zellen blicken und Veränderungen vornehmen, von Menschen, die in den Tiefen des Meeres riesige Kraken suchen und das Leben von Delfinen, Walen und Haien erforschen. Wenn ich mir etwas hätte aussuchen können, dann hätte ich mir gewünscht, dass ich Meeresforscherin werden kann.«
»Vielleicht kannst du es werden.«
Clara lächelte. »Das hat die Lehrerin auch gesagt. Um Meeresbiologie zu studieren, müsste ich auf eine Schule gehen und das Abitur machen, hat sie gesagt. Aber mein Onkel war dagegen.«
»Aber ...«
Clara hob bremsend die Hand. »Vor drei Jahren ist unsere Lehrerin plötzlich verschwunden. Niemand konnte sagen, wo sie ist. Bald darauf haben wir erfahren, dass man sie entführt hat.«
»Wer? Die FARC?«
Clara schwieg.
Ich ahnte Schlimmes. »Doch nicht dein Onkel?«
»Das weiß ich nicht. Aber er kennt die Leute. Und ich habe gehört, dass sie krank ist. Sie wird sterben, wenn sie nicht bald befreit wird.«
»Wie heißt sie, hast du gesagt? Susanne? Du sprichst doch nicht etwa von der deutschen Lehrerin Susanne Schuster? Mein Gott!« Fast immer, wenn sich Deutsche trafen, redete man über diesen Entführungsfall. »Die ist genau hier in der Gegend entführt worden? O Gott! Sag das bloß meinem Vater und Elena nicht!«
Clara nickte. Sie schien meine Sorge zu verstehen, obwohl sie doch eigentlich selbst so viele Probleme hatte. »Ich sage nichts«, fügte sie hinzu. »Aber ihr solltet möglichst schnell wieder verschwinden. Es war gefährlich, überhaupt zu kommen. Ich verstehe Damián nicht, dass er euch hierhergebracht hat. Nur meinetwegen! Mein Onkel Tano kann sehr wütend werden, wenn er sich hintergangen fühlt. Und wenn ihr mich mitnehmen würdet nach Bogotá, und er erfährt es, dann würde er uns folgen und mich zurückholen. Nicht einmal in Bogotá bei meiner Mama Lula Juanita wäre ich sicher.«
»Warum tut er so was?«
Clara zuckte mit den Schultern. »Er mag es nicht, wenn Frauen die alte Ordnung verändern. Mama Lula Juanita ist von hier
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