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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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rechten Hand verflochten. Er hatte mich kurz angelächelt, als wir uns dem Rückweg zuwandten. Mit diesem unnachahmlich leichten Schritt ging er neben mir. Ab und zu berührten sich unsere Oberarme. Ich hörte seinen ruhigen Atem.
    »Wie ist es damals dazu gekommen, dass du im Urwald verloren gegangen bist?«, fragte ich. »Und dass du zu der Bärin gestoßen bist?«
    »Mein Onkel Tano hatte mich geschlagen, weil ich Maispflanzen umgeknickt hatte. Da bin ich fortgelaufen.«
    »Dein Onkel hat dich geschlagen?«
    »Du musst ihn verstehen. Der Mais war unsere Nahrung für den Winter.«
    »Aber du warst ein kleines Kind! Wenn mein Vater mich schlagen würde ...!«
    »Mein Onkel Tano ist kein schlechter Mensch. Es war ein hartes Leben. Damals kam es auf jeden Maiskolben an, auf jedes Huhn, auf jede Hand, die mitarbeitet.«
    »Will er deshalb nicht, dass Clara weggeht?«
    »Die Pullover, die sie strickt, sind besonders schön. Es waren Leute einer britischen Handelskette hier, die unsere Pullover in Europa verkaufen wollen. Sie zahlen einen guten Preis.«
    »Aber wenn sie stirbt, kann sie auch keine Pullover mehr stricken.«
    »Wenn sie in Bogotá ist, hat mein Onkel auch nichts mehr davon.«
    »Das ist ziemlich egoistisch, findest du nicht?«
    Damián blickte mich ernst an. »Es ist leicht, von Egoismus zu sprechen. Aber die ganze Familie lebt von dem, was geschickte Hände produzieren.«
    »Könnten deine Cousinen das nicht auch lernen?«
    Damián lachte. »Jasmin, du willst in zwei Atemzügen Probleme lösen, die wir in vielen Jahren nicht gelöst bekommen haben. Meine Cousinen scheren die Alpakas, spinnen Wolle und färben sie. Maria verkauft sie in Popayán und kauft dafür die maschinell gesponnene Wolle, die Clara braucht. Meine Cousinen kümmern sich außerdem ums Vieh und ackern auf dem Maisfeld. Sie arbeiten viel. Auch sie können stricken, aber ihren Mustern fehlt der Zauber, sagt Tante Maria. Und sie hat recht. Schau mal!«
    Er deutete auf einen winzigen Kolibri am riesigen Kelch einer Blume. Sein Schnabel war länger als sein Körper.
    »Kolibris sind die Juwelen der Nebelberge«, sagte er mit einer leisen Zärtlichkeit in der Stimme, als meinte er mich. »Wir nennen sie e’tscuë . Das kommt von Smaragd.«
    Wir gingen den Rest des Wegs fast schweigend. Empfand Damián wirklich das Gleiche wie ich?, fragte ich mich.
    In mir herrschte eine eigenartige selbstsichere Ruhe und zugleich eine zuckende Lebendigkeit. Glück eben. Als ob wir alles besprochen und unseren Vertrag fürs Leben geschlossen hätten und die Bärin uns ihren Segen erteilt hätte. In keinem Moment hatte ich es genauer gewusst: Er gehörte für immer zu mir und ich zu ihm. Und wenn er hier irgendwo als Hirte hätte leben wollen, ich hätte ohne zu überlegen Ja gesagt. Ich hätte einfach zu allem Ja gesagt. Aber mein Ja schien er nicht zu wollen. »Es geht nicht«, hatte er mir zweimal erklärt. Ich war eine Weiße, ich passte nicht hierher.
    Also musste ich irgendetwas tun, um ihm zu beweisen, dass ich die Richtige war, dass ich stark genug war, mit ihm zu gehen, wohin auch immer. Aber wie konnte ich ihm das beweisen?
    Die Erinnerung an unsere kurze Umarmung unter Wasser jagte mir einen Schauer über den Körper. Da war doch etwas, sagte ich mir. Eindeutig. Er liebt mich! Er hielt meine Hand, er hatte mir seine Bärin gezeigt. Aber er hatte mich auch um Entschuldigung gebeten nach unserer Begegnung im Smaragdsee. Als sei es ein Ausrutscher gewesen. Und heute hielt er nur meine Hand. Mehr nicht. Er schien eine Grenze gezogen zu haben zwischen uns, die er nicht mehr überschreiten wollte. Aber durfte er ganz allein entscheiden über uns? Hatte ich nicht auch noch ein Wörtchen mitzureden?
    Unter zartblauem Himmel standen in Staffeln hintereinander die blauen Bergzüge. In den Tälern waberten im Schatten die Nebel der Nacht. Der Wind, der das Plateau heraufstrich, war kühl und feucht.
    Ich fasste Mut und holte Luft. »Damián ...«, begann ich.
    Im selben Moment straffte er sich, schärfte den Blick nach vorn und zog, ziemlich heftig, seine Finger aus den Fingern meiner Hand.
    Mein Vater stapfte mit großen Schritten über die Fläche. Noch hatte er uns nicht gesehen, aber gleich würde er uns erblicken. Keinesfalls durften wir jetzt nach Heimlichkeiten aussehen. Deshalb hob ich die Hand und winkte heftig.
    Mein Vater bemerkte uns, änderte seine Richtung und kam eilig zu uns an den Waldrand. Mir blieb das fröhliche »Guten Morgen!« im Hals

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