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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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stecken. Sein Gesicht war grimmig und besorgt.
    »Wo wart ihr?«, war seine erste Frage. »Wo zum Teufel habt ihr gesteckt?«
    »Ist was passiert?«, fragte ich erschrocken.
    »Das frage ich dich, Jasmin!«, antwortete mein Vater, diesmal auf Deutsch. So wütend hatte ich ihn selten erlebt. »Hast du irgendeine Vorstellung, welchen Schrecken du uns eingejagt hast? Wir stehen auf und du bist nicht da? Weg, verschwunden! Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Wir suchen jetzt seit einer guten Stunde nach dir!«
    »Damián hat mir die Bärin gezeigt.«
    »Na, wunderbar! Dazu musstet ihr bei Nacht und Nebel davonschleichen, ohne irgendwem ein Wort zu sagen? Kannst du mir das mal erklären, Jasmin?« Er blickte mir scharf in die Augen. »Oder muss ich annehmen, dass du das Vertrauen, das ich in dich gesetzt habe, ausgenutzt hast?«
    »Nein, Papa! Ich schwör’s. Da war nichts.« Ich sprudelte los. »Wir haben nur eine Bärin beobachtet. Sie hat zwei Junge, sie ist ganz nah an uns herangekommen und ein Junges hat mir die Schnürsenkel aufgezogen. Total süß, echt! Die Bärin hat sich hoch oben im Baum ein Nest gebaut, aus Ästen. Sie verlässt es bei Sonnenaufgang, deshalb mussten wir so bald dort sein, und ich wollte niemanden wecken, deshalb ...« Weiter kam ich nicht.
    »Erzähl bitte keine Märchen, Jasmin«, donnerte mein Vater. »Du bist wahrlich alt genug, um zu wissen, dass wir uns Sorgen machen, wenn du plötzlich verschwindest, und dann auch noch mit ...«, er musterte Damián kurz und unfreundlich, »... mit diesem jungen Burschen hier. Was sollten wir da denn denken? Leandro war drauf und dran, das Militär zu aktivieren! Muss ich dir erklären, in was für einem Land wir uns befinden? Hier sind Entführungen gang und gäbe, Jasmin!«
    Ich versuchte zu lachen. »Aber Papa!«
    »Und den anderen Verdacht möchte ich lieber nicht aussprechen«, fuhr mein Vater fort. »Du bist erst sechzehn, Jasmin. Vielleicht habe ich dich überschätzt. Mein Fehler. Ich hätte nicht gedacht, dass du mein Vertrauen missbrauchen würdest. Allerdings hatte ich auch gehofft, dass Damián mehr Verantwortungsgefühl hat.«
    Damián richtete sich hoch auf. Er hatte auf dem Colegio Bogotano Deutschunterricht gehabt. Er verstand, was mein Vater sagte.
    »Papa«, schrie ich. »Es ist nichts passiert! Gar nichts!«
    Mein Vater schluckte, blinzelte, nahm mich am Arm und zog mich von Damián weg. »Na gut. Ich will hoffen, dass du die Wahrheit sagst. Aber von jetzt an bleibst du bei mir. Und auf keinen Fall wirst du mit Damián irgendwohin gehen, wo ich dich nicht sehe. Verstanden?«
    »Papa! Was ist denn in dich gefahren? Bisher hast du doch ...«
    »Das war ein Fehler, wie ich sehe. Und du ...!« Mein Vater wandte sich Damián zu. In seinem Zorn vergaß er sogar, ins Spanische zu wechseln. »Du lässt die Finger von meiner Tochter. Damit das klar ist! Andernfalls zeige ich dich an. Sie ist nämlich noch minderjährig. Zumindest nach deutschem Recht.«
    Damián schlitzte die Augen. »Keine Sorge, Markus!«, antwortete er auf Deutsch, wenn auch langsam und jedes Wort überlegend. »Ich habe nicht vor, deine Tochter zu ... zu entehren.«
    »Dann hör auf, ihr den Kopf zu verdrehen!«
    Die steile Falte erschien zwischen Damiáns Brauen.
    »Er verdreht mir nicht den Kopf, Papa!«, ging ich dazwischen. »Hör auf, ihm Vorwürfe zu machen. Er hat keine Schuld! Und ich ... ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue.«
    »Das bist du nicht! Wie du heute bewiesen hast. Und jetzt komm! Wir müssen weiter.«
    Er packte mich erneut am Arm und wandte sich mit mir dem Weg zur Hütte zu. Im Umwenden sah ich einen Ausdruck von Bitterkeit über Damiáns Gesicht huschen. Er presste die Lippen zusammen, atmete tief ein und senkte den Blick auf den Boden.
    Ein Stich fuhr mir in die Magengrube.

de

– 24 –
     
    B eim Abstieg kamen wir in Nebel und Regen. Wasser tropfte von den Blättern, auf dem Weg flossen Bäche. Die beschlagenen Hufe der Pferde rutschten immer wieder auf den Steinen ab. Ihre Mähnen troffen vor Nässe. Wir zogen die Kapuzen unserer Capes tief in die Gesichter. Mit der Zeit drang die Nässe durch die Nähte. Wir waren ständig damit beschäftigt, jedes Loch, durch das Wasser drang, zu verstopfen und die Capes über die Knie zu zupfen. Aber es half nicht viel. Die Feuchtigkeit kroch von den Füßen über die Beine hoch. Es passte alles prächtig zu unserer Stimmung.
    Schweigend zogen wir den Hang entlang bergab. Schweizer Berge

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