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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Clara lachte. »Mein Bruder ist ein e’shavytjas . Das heißt in unserer Sprache: ›als ob er ein Bär wäre‹. Er ist als kleines Kind ein paar Tage einer Bärin und deren Jungen gefolgt.«
    »Einem Andenbären?«, fragte mein Vater. »Sind die nicht äußerst selten?«
    »Sie leben nur sehr verborgen«, antwortete Damián.
    »Wir nennen sie Brillenbären«, erklärte mein Vater, »wegen der weißen Zeichnung im Gesicht. Man weiß fast nichts über sie.«
    »Damián hat fast mit ihnen gelebt«, erklärte Clara voller Stolz auf ihren Bruder. »Er war im Urwald verloren gegangen und die Bärin hat ihn nicht verjagt. Sie hat ihm gezeigt, was man essen kann im Urwald und wie man sich im Baum für die Nacht ein Nest baut. Dann hat sie ihn zu uns zurückgeführt. War es nicht so, Damián?«
    Er lächelte verlegen. »Ich erinnere mich nicht genau. Ich war damals fünf Jahre alt. Ich hatte Glück, dass die Bärin keine schlechten Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte.«
    »Du hast sogar eine Nacht bei den Jungen und ihr in so einem Baumnest geschlafen«, sagte Clara.
    Damián lachte. »Das behauptet Mama Lula Juanita immer und Tante Maria erzählt es auch so. Es könnte aber auch nur ein Traum sein, den Juanita mir erzählt hat.« Er wandte sich an meinen Vater und erklärte: »Sie ist eine Piache , eine Traumdeuterin.«
    »Aber du hast das Zeichen des Bären auf deinem Rücken, Damián.« Clara wandte sich uns zu. »Es sind Kratzspuren der fünf Krallen. Sie kommen daher, dass die Bärin ihn wie ihre Jungen auf den Schlafplatz im Baum hinaufgezogen hat.«
    »Wirklich?«, rief Elena. »Zeig mal!«
    »Man sieht sie kaum«, wehrte Damián ab.
    »Es gibt nur wenige Menschen«, erklärte uns Clara eifrig, »die jemals den großen Bären zu Gesicht bekommen. In unserer Kultur, der Kultur der Nasas, wird derjenige, der mit einem Bären Freundschaft schließt, einmal ein großer weiser Mann sein, ein Friedensstifter.«
    Leandro hob seinen Kaffeebecher und prostete Damián zu. »Auf den künftigen Präsidenten von Kolumbien!«
    »Zeig doch mal dein Zeichen des Bären«, insistierte Elena. Sie blinzelte mir zu. »Stell dich nicht so an!«
    Damián hatte ihr Augenzwinkern aufgefangen. Sein Blick schoss mir in die Augen, erstaunt und fragend. Ich schüttelte leise den Kopf. Elenas taktlose Zweideutigkeiten begannen mir auf die Nerven zu gehen.
    »Es ist ihm peinlich!«, lächelte Clara.
    »Was ist daran peinlich?«, fragte Elena.
    Damián richtete seine ernsten Augen auf sie. »Glaubst du an Bärenzeichen und indianische Götter?«
    Elena richtete sich auf. Ihre grünen Augen blitzten. »Ich nicht. Aber ist es nicht eure Kultur? Du solltest daran glauben.«
    »Wieso denn? Damit ihr über uns lächeln könnt?« Damiáns Gesicht war hart geworden. »Weil wir noch an Naturgötter und Magie glauben und unsere Zukunft aus den Träumen alter Frauen ablesen. Ihr würdet uns Indígenas, unsere bunten Kleider und Hütten doch am liebsten unter Naturschutz stellen wie die Affen im Urwald. Ihr hättet es am liebsten, wenn wir Computer für einen Zauber hielten, der uns die Seele raubt, damit ihr, wenn ihr vor uns steht, vom einfachen Leben in Harmonie mit der unberührten Natur träumen könnt. Aber wir Indios wollen eure Träume vom einfachen Leben nicht einlösen. Wir wollen überall Zugang zum Internet!«
    Elena stöhnte. »Entspann dich, Damián! Muss du immer gleich politisch werden? Weiße, Mestizen, Schwarze, Indígenas ... wir sind doch alle nur Menschen. Und jeder soll so leben, wie es ihm gefällt, wenn du mich fragst.«
    »Dann ist es ja gut«, antwortete Damián.
    »Trotzdem verstehe ich nicht, warum du deine Bärennarben nicht zeigen willst.«
    »Hast du auch ein Muttermal oder eine Narbe, die du uns zeigen möchtest?«
    Elena schnaubte entrüstet. Leandro, mein Vater und Clara lachten. Damián lächelte schließlich auch.
    »Übrigens ist eine Bärin mit ihren Jungen hier in der Gegend«, sagte er. »Ich habe ihre Spuren gesehen.«
    »Was?«, rief Elena alarmiert. »Eine Bärin! Und das sagst du uns erst jetzt? Wie soll ich da heute Nacht ein Auge zutun? Ich werde die ganze Zeit denken, dass sie uns überfällt.«
    »Bären schlafen nachts auf ihrem Baum«, erwiderte Damián. »Die Bärin wird nicht zu uns kommen, wir haben nichts, was sie interessiert.«
    »Na hoffentlich.« Elena seufzte.
    Die Abenddämmerung war kurz, aber gigantisch. Die Sonne versank hinter den blauen Reihen der Berge und färbte die Wolken erst rosa,

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