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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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flüsterte ich. Mein Herz klopfte heftig.
    Er nahm mich bei der Hand und führte mich von der Hütte weg. Sein Schritt war schnell und leicht. Aber ich stolperte auf dem dunklen Boden und geriet außer Atem. Er bremste seinen Schritt.
    »Wo gehen wir hin?«, fragte ich.
    »Die Bärin übernachtet mit ihren Jungen nicht weit von hier.«
    »Dann hast du gestern nicht nur ihre Spuren gesehen?«
    Damián lachte leise. »Nein, ich habe sie mit ihren Jungen gesehen. Aber ich wollte nicht, dass Elena sich noch mehr aufregt. Hast du Angst?«
    »Nein«, sagte ich. Niemals hätte ich Angst gehabt, solange Damián bei mir war, egal, wo er mich hinführte.
    »Sie wird ihren Schlafplatz verlassen, wenn die Sonne aufgeht«, erklärte er. »Deshalb müssen wir vorher dort sein.« Ich hörte ein frohes Lächeln in seiner Stimme und mir schwindelte vor Glück. »Willst du?«
    »Ja! Unbedingt!«
    Hand in Hand gingen wir durch die Nacht, die ebenso schnell wich, wie abends der Tag endete. Ein helles Grau stieg aus den östlichen Bergen in den Himmel empor, bald färbte es sich rosig, und dann blinzelte auf einmal die Sonne zwischen zwei Bergen auf und erhellte schlagartig die dunkelgrünen, von Nebeln umschlichenen Wälder, die hellgrüne Ebene, an der wir entlanggingen, und die taufeuchten Blätter und Büsche.
    Wir umrundeten ein Gebüsch und Damián blieb plötzlich stehen. Er deutete auf einen einzeln stehenden, fast blattlosen Baum, der vielleicht zwanzig Meter vor uns stand. »Siehst du?«
    Ziemlich hoch oben auf einer aus starken Ästen zusammengebauten Plattform schimmerte im Morgenlicht das schwarze lange Fell eines Tiers. Es war ein sehr großes Tier.
    »Beweg dich nicht, egal, was passiert!«, raunte mir Damián ins Ohr. »Sie wird uns riechen. Aber sie sieht uns nicht. Bären sehen schlecht.«
    Tatsächlich hob die Bärin bald witternd den Kopf. Es war ein mächtiger Schädel mit einem weißen Strich auf der Nase, der sich über ihren Augen teilte. Sie richtete sich auf. Im schwarzen Fellhaufen ließen sich zwei weitere, viel kleinere Köpfe erkennen.
    Wir standen Hand in Hand, völlig regungslos und, zumindest ich, mit angehaltenem Atem. Damián schien keinerlei Sorge zu haben, dass die Bärin unsere Anwesenheit missverstand. Sie streckte sich und gähnte. Ihre Jungen turnten auf die Äste und begannen den Abstieg vom Baum. Es sah nicht sonderlich geschickt aus. Mehrmals hatte ich Angst, dass sie fallen würden. Einmal baumelte eines der Jungen an zwei Pfoten, aber irgendwie turnte es sich wieder auf den Ast hinauf. Es wirkte so unbeholfen, als seien sie eigentlich nicht gebaut, um zu klettern. Mir fiel auf, dass die Andenbären schlanker und langbeiniger waren als die Braunbären, die ich im Zoo gesehen hatte. Ihr Fell war sehr lang und glänzte seidig.
    Schließlich rutschte auch die Bärin den Stamm hinunter und kam, die Nase witternd erhoben, auf uns zu. Wäre Damián nicht bei mir gewesen, wäre ich jetzt wohl doch davongelaufen. Aber seine Hand, mit der er meine hielt, zuckte nicht einmal. Hätte auch nur die geringste Gefahr für mich bestanden, hätte er mich nicht hierhergeführt, sagte ich mir.
    Langsam und immer wieder nach allen Seiten schnüffelnd, kam die Bärin auf uns zu. Ich hörte sie schnaufen. Ihre beiden Jungen hielten sich hinter ihr. Immer näher kamen sie. Bald konnte ich ihre kleinen Augen sehen. Sie schmatzte und grunzte. Was für gewaltige Kiefer. Mit ihnen konnte sie mühelos armdicke Äste brechen und zerbeißen.
    Keine zwei Meter von uns entfernt blieb sie stehen. Ihre Jungen betrachteten uns aufmerksam, dann begannen sie sich zu balgen. Die Bärin setzte sich. Es war, als wollte sie uns ihre prächtigen Kinder zeigen. Die Kleinen schnappten nach Insekten, verbissen sich in Ästen oder Wurzeln. Und plötzlich kugelte eines genau vor meine Füße. Als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, zog es mit Krallen und spitzen Zähnen die Schnürsenkel meines Sneakers auf.
    Ich war versucht zu lachen, verkniff es mir aber.
    Schließlich fand die Bärin, dass es genug sei, gab einen Laut von sich, dem die Jungen sofort gehorchten, stand auf, drehte sich um und marschierte davon. Die kleinen Bären folgten ihr in putzigen Sprüngen.
    Inzwischen stand die Sonne hell am Himmel. Es war Zeit, dass auch wir unseren Rückweg antraten. Vögel zwitscherten. Kolibris tranken sich an Blüten voll. Ich war glücklich wie nie. Damián ging an meiner Seite, die Finger seiner linken Hand in die meiner

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