Der Ruf des Kookaburra
dichtes, dunkelblondes Haar, das im Nacken modisch kurz geschnitten war. Reglos sah Emma ihm entgegen, während die Enttäuschung in ihrer Seele wütete.
Was suchte dieser Mensch hier im Regenwald? Er sah keineswegs so aus, als habe er sich verirrt. Er wirkte frisch und ausgeruht, seine unverkennbar teure Kleidung war sauber, und er blickte auch nicht hilfesuchend oder gar verzweifelt um sich. Mit natürlicher Selbstsicherheit schritt er durch das Lager, direkt auf Emma und Purlimil zu.
Erst als er sie fast erreicht hatte, registrierte Emma den Brief in seiner Hand.
Ihr Gruß blieb ihr im Halse stecken. Eine Nachricht von Carl!, schoss es ihr durch den Kopf, und sie starrte wie hypnotisiert auf den weißen Umschlag.
»Gestatten, John Roberts«, sagte der junge Mann. Seine Stimme hatte ein angenehmes Timbre. »Und Sie sind Mrs Emma Scheerer, nehme ich an.«
Emma zwang sich, ihren Blick von seiner Hand zu lösen und ihm ins Gesicht zu sehen.
»Ganz recht. Was führt Sie zu mir, Mr Roberts?« Emma hoffte, dass ihre Stimme einigermaßen gelassen klang, als sie hinzufügte: »Es muss ja sehr wichtig sein, wenn Sie sich die Mühe machen, mich in diesem entlegenen Winkel der Erde aufzusuchen.«
»Das ist es in der Tat.« Er schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. »Aber ich würde mein Anliegen gerne unter vier Augen mit Ihnen besprechen.«
Der junge Mann warf einen beredten Blick auf Purlimil, die ihn mit unverhohlener Neugier anstarrte.
»Natürlich.« Emma schluckte nervös. »Ähm, Purlimil, würdest du uns bitte für einen Moment allein lassen?«
In der Sprache der Eingeborenen fragte Purlimil leise: »Hat der Mann Nachricht von Carl?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Emma in gleicher Weise. »Aber ich werde es hoffentlich bald herausfinden.«
Purlimil nickte, und in ihrem Gesicht zeichnete sich leise Hoffnung ab. Ohne ein weiteres Wort nahm sie Emma die kleine Belle ab, drehte sich mit den Babys auf den Armen um und ging.
Mr Roberts schaute ihr sekundenlang nach. Dann blickte er hastig zu Boden, räusperte sich und fuhr sich durch das blonde Haar.
Trotz ihrer Anspannung musste Emma grinsen. In Mr Roberts’ Welt zeigten Damen in der Öffentlichkeit nicht einmal ihre Fußknöchel; kein Wunder, dass ihn der Anblick einer gänzlich unbekleideten Frau aus der Fassung brachte.
Er räusperte sich ein weiteres Mal, dann hob er entschlossen den Kopf. »Also, Mrs Scheerer«, sagte er geschäftsmäßig. »Kommen wir zum Grund meiner Anwesenheit in diesem Lager.«
Emma sah ihn abwartend an.
»Wir sind gewissermaßen Kollegen, Sie und ich.« Mr Roberts hatte sich wieder vollkommen gefangen. »Wie Sie und Ihr Ehemann arbeite auch ich im Dienste der Kolonialregierung New South Wales. Mein Spezialgebiet ist die Pflanzenforschung; ich habe Medizin und Pflanzenkunde studiert.«
Seine Worte rauschten an ihr vorbei, alle – bis auf eines: Kolonialregierung.
Es ist also wahr. Er bringt mir Nachricht von Carl.
»Ich nehme an, Ihr Mann ist nicht wieder aufgetaucht?«, erkundigte sich Mr Roberts.
Emma runzelte verwirrt die Stirn. »Nein. Ich dachte, dass Sie, Mr Roberts … ich meine, sind Sie denn nicht gekommen, um mir etwas über seinen Verbleib mitzuteilen?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider wissen wir über Mr Scheerers Verbleib genauso wenig wie Sie. Er hat uns keinerlei Informationen zukommen lassen. Deshalb gehen wir davon aus, dass er leider …«
Mr Roberts brach ab, als er Emmas Gesichtsausdruck gewahrte. Unbehaglich sah er sie an. »Mrs Scheerer, es muss Ihnen doch klar sein, dass Ihr Mann mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr lebt.«
»Nein, ich … ich dachte …« Emma fasste sich an die Stirn. Die Welt um sie herum drehte sich. »Warum sind Sie denn extra gekommen, wenn Sie mir gar keine Nachricht von ihm bringen?«
Mr Roberts schien die Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören, denn in seinen Ausdruck mischte sich Mitleid. »Mrs Scheerer, ich … Nun, ich habe den Auftrag zu prüfen, ob die Zuteilung von Mitteln an Sie noch gerechtfertigt ist, jetzt, wo Sie uns davon benachrichtigt haben, dass Ihr Ehemann … nun ja … verschwunden ist.«
Emma starrte ihn an. Man hatte Carl also bereits abgeschrieben? Dieser Gedanke war schlimm. Aber nicht ganz so schlimm wie der, der ihm folgte.
Denn da ein Vollblutwissenschaftler wie Carl seine Auftraggeber niemals aus einer persönlichen Laune heraus im Ungewissen gelassen hätte, konnte das Fehlen von Informationen nur eines bedeuten:
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