Der Ruf des Kookaburra
Mr Roberts hatte recht.
Carl war tot.
Die Umgebung um Emma verschwamm. Niemand existierte mehr als sie ganz allein, sie ohne Carl, sie ohne ihren Geliebten, Freund, Seelengefährten … unwiderruflich allein.
»Ich habe noch einen Brief für Sie«, drang Mr Roberts’ Stimme wie durch dichten Nebel zu ihr durch. »Ich hatte in Ipswich auf der Post zu tun, und als ich mit dem Angestellten ins Gespräch kam und ihm erzählte, wohin ich unterwegs sei, drückte er mir den hier in die Hand.«
Wie betäubt griff Emma nach dem Umschlag. Minuten zuvor hatte sie sich noch nach dem Brief verzehrt; jetzt erschien er ihr wie ein Ausdruck reinsten Hohns.
Er war von Mrs Dunnings. Gleichgültig riss Emma ihn auf, kaum merkte sie, was ihre Hände taten; und nachdem sie die Zeilen überflogen hatte, war sie noch nicht einmal enttäuscht. Mrs Dunnings hatte weder etwas von Carl gehört, noch konnte sie sich erklären, warum er einfach fortgeritten war. Sie war genauso ratlos und unwissend wie Emma.
Was auch sonst?
Denn Carl war ja tot.
Tot.
»Mrs Scheerer?«
Emma hob den Kopf, und an dem Schleier vor ihren Augen erkannte sie, dass sie wohl weinte. Seltsam, dass sie das gar nicht spürte. Sie spürte auch sonst nichts, überhaupt nichts, abgesehen von einer entsetzlichen Kälte.
John Roberts sah sie hilflos an. »Es tut mir leid, wenn Sie schlechte Nachrichten bekommen haben. Und ich … na ja, ich fürchte, ich bin nicht gerade sensibel vorgegangen. Wirklich, Mrs Scheerer, es tut mir leid.«
»Nicht Ihre Schuld«, sagte sie und schauderte.
Ob ihm auch so kalt war wie ihr?
Ob sie Carl in einer anderen Welt wiedersehen würde, wenn sie jetzt starb? Ob das funktionierte – einfach aufgeben und sterben? Hier, sofort? Wie schön es wäre, ihn wiederzusehen … zu sterben und ihn wiederzusehen … Carl …
John Roberts musterte sie mit zusammengezogenen Brauen. Dann griff er entschlossen nach ihrem Arm. »Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen. Wissen Sie was? Kommen Sie mit mir, ich mache Ihnen eine Tasse Tee. Ich habe mich in dem verlassenen Forschungslager eingerichtet, wo Sie Ihr Pferd untergebracht haben. Ich werde ja länger bleiben, so lange, bis ich weiß, ob Sie … ob … ob die Regierung die Gelder … wie auch immer.«
Er verstummte.
Sie wehrte sich nicht, als er sie fortführte. Hatte gar keine Kraft dazu. Willenlos drang sie mit John Roberts in die Wildnis ein, folgte ihm auf verschlungenen Pfaden zum ehemaligen Forschungslager, Pfaden, die Mr Roberts nur kennen konnte, weil Carl der Kolonialregierung detailreiche Karten gezeichnet hatte. Auch im Zeichnen war Carl begabt gewesen. Wie in allem.
Vorbei.
Denn er war tot.
Emma wollte nichts als ebenfalls sterben.
Aber nein! Er lebt!
Emma blinzelte überrascht. Der Nebel, der sie eingehüllt hatte, löste sich auf. Zaghaft regte sich die Hoffnung.
Und diese Hoffnung folgte ihr beharrlich, raunte ihr zu, dass sie nicht aufgeben dürfe, umwehte sie wie ein wüstenwarmer Lufthauch. Erst als der Regenwald sich lichtete und die subtropische Vegetation Eukalypten und hohen Gräsern Platz machte, wurden die Stimmen leiser.
Sofort wandte sie den Kopf, blickte zurück zum Regenwald und fragte sich, ob sie recht haben konnten, die Stimmen … waren sie aus ihr selbst gekommen oder gar aus der Luft? Fast kam es ihr so vor.
John Roberts nahm nichts von alledem wahr. Nach wie vor schweigend stapfte er mit Emma durch das verlassene Lager, führte sie über den gerodeten Platz mit seinen windschiefen Hütten und schob sie schließlich ins Haupthaus hinein.
Dort drückte er sie auf einen grob gezimmerten Stuhl und verschwand in die Küche, um Tee zuzubereiten. Offensichtlich war er froh, endlich etwas Handfestes tun zu können.
Emma saß bewegungslos auf ihrem Stuhl und lauschte. Einbildung oder nicht? Marmbeja-Halluzinationen oder ein tiefes inneres Wissen? Einmal noch wollte sie die Stimmen hören, einmal noch sich an dieses winzige bisschen Hoffnung klammern! An das irrationale Versprechen, dass doch noch nicht alles verloren war … Wenn sie ganz still war, konnte sie es vielleicht noch einmal hören …
Sie vernahm das Klappern von Tassen. Das Plätschern von Wasser. John Roberts’ Murmeln. Das Knistern von rasch entzündetem Feuer.
Aber keine Stimmen.
Natürlich nicht, dachte sie niedergeschlagen. Es gab ja keine Geister. Und wenn es sie gab, dann waren sie jetzt eindeutig fort.
Sie wandte sich um und starrte aus dem Fenster
Weitere Kostenlose Bücher