Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kookaburra

Der Ruf des Kookaburra

Titel: Der Ruf des Kookaburra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
Vom Netzwerk:
sollte, wenn es keinerlei verbindliche Regeln mehr gab? Die Sitten der Schwarzen waren nicht die ihren, und die Sitten der Weißen galten nichts mehr. Niemand schrieb Emma vor, wie sie sich verhalten sollte, und keine Mutter oder Freundin leistete ihr in ihrer Gefühlsverwirrung Beistand. Plötzlich war es Emma, als befinde sie sich im freien Fall – und niemand war da, um sie aufzufangen.
    Die Sehnsucht nach einem Stückchen Normalität, einem Hauch Sicherheit, nach irgendetwas, an dem sie sich festhalten konnte, wurde übermächtig. So wunderbar es im Regenwald mit Carl gewesen war, so verloren fühlte Emma sich hier ohne ihn.
    Gehörte sie wirklich zu den Eingeborenen … auch allein?
    Emma legte ihr Schreibzeug beiseite.
    »Ich würde mich freuen, wenn du mir von Sydney erzählst«, sagte sie zu John und machte sich bereit, den Geschichten aus einer Welt zu lauschen, die einmal die ihre gewesen war.

27
    AUGUST 1860
    P urlimils Blick blieb leer und tot, während der Clan unverdrossen durch den winterlich grünen Regenwald wanderte, auf verschlungenen Wegen und ohne jegliche Hast.
    Abend für Abend verbanden die Eingeborenen sich mit der Welt ihrer Geister, und Abend für Abend saßen Emma und John zusammen vor dem Zelt und plauderten. Emma genoss die Gespräche mit John, und sie spürte, dass auch er gerne mit ihr zusammen war. Dass er als Kontrolleur gekommen war, schien er beinahe vergessen zu haben.
    Emma fühlte sich nun eher, als seien sie beide gestrandete Abenteurer, die das gemeinsame Schicksal zusammenschweißte: Je tiefer die Eingeborenen in ihrem mystischen Tun versanken, desto enger wurde die Verbindung der davon ausgeschlossenen Weißen. Zwar ahnte Emma in klaren Momenten, dass sie im Begriff war, sich von ihren schwarzen Freunden zu entfremden, und dass das Vertrauen der Schwarzen, das sie und Carl sich so mühsam erarbeitet hatten, immer mehr zu schwinden drohte.
    Aber was konnte sie schon dagegen unternehmen? Sie war nun einmal keine Eingeborene. Sie glaubte nicht an die Existenz der D’anba, und an die Marmbeja, die der Clan zu seinem Schutze anrief, glaubte sie kaum mehr. Wenn sie ehrlich war, glaubte sie nicht einmal daran, dass der Wanderkult überhaupt irgendwelche Auswirkungen haben würde. Interessant und kurios war er, das bestimmt; aber ob er Purlimil wirklich zu neuer Lebensfreude verhelfen würde? Daran zweifelte Emma nun fast so stark wie John. Der stand dem Clan und seinen Sitten nach wie vor freundlich, aber distanziert gegenüber.
    Birwain schien Emmas neue Skepsis zu spüren. Emma war sich sicher, dass dies der Grund dafür war, dass er sie, anders als versprochen, von allem ausschloss und sie an keinem noch so unwichtigen Part der Rituale teilnehmen ließ. Seltsamerweise ärgerte das vor allem die Forscherin in ihr. Als Frau war sie vollkommen zufrieden damit, abends bei John am Feuer zu sitzen. Einfach vor sich hin leben, nichtige Konversation betreiben, sich umwerben lassen wie eine ganz normale Frau: Dieses Dasein, das sie noch vor wenigen Wochen verabscheut hätte, empfand sie nun als beruhigend.
    Vielleicht war es sogar ganz gut, sagte sie sich, dass sie anfing, ihre Entfremdung vom Clan zu akzeptieren. Dass sie ihre Abende lieber mit John verbrachte, statt an abergläubischen Geisteranrufungen teilzunehmen. Am Ende käme Nowalingu noch auf den Gedanken, John seine Einsamkeit zu versüßen, während Emma seltsame Lieder sang, Steine beschwor und um rauchende Feuer hüpfte.
    Nur wenn die Nacht kam, die Dunkelheit, die Ahnungen, dann erfasste Emma eine Unruhe, die sie bis in ihre Träume hinein verfolgte. Dann hatte sie das absurde Gefühl, nur im Schlaf auf dem richtigen Weg zu sein, wohingegen sie sich bei Tage immer mehr in einem klebrigen Traumgespinst verfing. Sie musste aufwachen! Musste sich stellen …
    Aber wem?
    Und wollte sie das überhaupt?
    War es nicht viel einfacher, sich in Johns charmanter, unbekümmerter Gesellschaft zu verlieren? Was sprach eigentlich dagegen, fragte sie sich grübelnd, mit John in die Zivilisation zurückzukehren? Zwar würde sie ihre hochfliegenden Pläne, ein Leben lang als begeisterte Forscherin zu arbeiten, begraben müssen. Aber war diese Hoffnung nicht sowieso gestorben, als Carl sie verlassen hatte?
    Emma spürte, dass sie an einer Weggabelung stand. Und dass sehr viel davon abhing, welche Abzweigung sie wählen würde.
    Allmählich wurde die Vegetation karger, die Palmen und riesenhaften Nadelbäume spärlicher. Je offener die

Weitere Kostenlose Bücher