Der Ruf des Kookaburra
auf und ging mit Belle zum Zelt.
Sie würde auch ohne Johns Gesellschaft einen befriedigenden Abend verleben! Sollte er doch hinstarren, wo er wollte. Sie würde … arbeiten. Ja, das war eine gute Idee. In Kürze würden die Schwarzen sich für das nächste Ritual versammeln, und grimmig entschlossen nahm Emma sich vor, währenddessen ihre neuesten Beobachtungen zu Papier zu bringen. Dayindis Verschwinden und die Reaktion des Clans darauf waren schließlich nicht nur für sie persönlich von Interesse, fand sie, sondern ebenso für die Wissenschaft. Ha, es wäre doch gelacht, wenn sie sich von John und seinen Frauengeschichten aus der Fassung bringen ließe!
Als sie wenig später Belle in den Schlaf sang, fühlte Emma sich bereits ruhiger – und ihre Gedanken wurden eine Spur gerechter.
John schuldete ihr, bei Licht betrachtet, überhaupt nichts. Er hatte sie nicht berührt, und er hatte ihr nichts versprochen. Auch Emma schuldete John nichts. Genau genommen hatte sie ihn ja nicht einmal abgewiesen.
Alles, was passiert war, hatte in ihrem Kopf stattgefunden, in ihren Fantasien und in den Träumen.
Wer wusste schon, dachte Emma und kaute an ihrer Unterlippe, ob sie sich Johns nächtliche Sehnsucht nicht bloß eingebildet hatte? Vielleicht war seine Lust auf sie gar nicht real gewesen – nichts als Emmas eigener Wunschtraum? Wahrscheinlich hatte John brav geschlafen, während sie ihm unterstellt hatte, dass er sich nach ihr verzehrte.
Als ihre Überlegungen an diesem Punkt angelangt waren, fühlte Emma sich gleichzeitig gedemütigt und beruhigt. John wollte nichts von ihr, und sie wollte, zumindest offiziell, auch nichts von ihm. Somit gab es nichts, was dagegensprach, dass sie beide gute, platonische Freunde blieben.
Na ja, fast nichts, korrigierte Emma sich, als der Engländer später durch die Dunkelheit auf sie zukam. Wieder erfüllten Gesang und der Rhythmus der Klanghölzer die Nacht, und wieder reagierte ihr Körper viel zu stark auf Johns Nähe.
Er setzte sich neben sie auf den Boden. Emma forschte unauffällig in seiner Miene, ob er in den letzten zwei Stunden irgendetwas getan hatte, das sie nicht gutheißen konnte. Etwas mit Nowalingu zum Beispiel.
Nowalingu, die einem anderen Mann versprochen war.
Nowalingu, die trotz dieses Umstandes nicht nur John schöne Augen machte, sondern auch Birrinbirrin. Und wer wusste schon, wie vielen Männern noch …
Musste es John nicht abstoßen, nur einer von vielen zu sein?
Ach, Unfug!, wies Emma sich zurecht. Das waren gehässige, ungerechte Gedanken, die sie sich schnellstens abgewöhnen musste. John hatte doch gar keine Gelegenheit dazu gehabt, sich mit Nowalingu zu vergnügen. Jedenfalls nicht … so. Die junge Frau war an diesem Abend, genau wie alle anderen Schwarzen, mit der Anrufung der Geister beschäftigt; gewiss hatte sie unmittelbar vor der heiligen Handlung anderes im Sinn gehabt, als sich von einem jungen Weißen küssen zu lassen. Geschweige denn, mit ihm im Gebüsch zu verschwinden. Ob John Nowalingu so sanft und zärtlich angefasst hatte, wie er Emma in ihrem Traum …
»Ich dachte, ich unterhalte dich ein bisschen«, unterbrach seine Stimme ihre galoppierenden Gedanken.
Er machte eine vage Handbewegung in Richtung Dickicht. »Musik haben wir ja schon, wenn es auch nicht gerade Mozart ist. Fehlen nur noch die Geschichten, dann könnte es trotz der Kälte ein richtig gemütlicher Abend werden. Was meinst du? Würde es dir gefallen, wenn ich dir, sagen wir … von Sydney erzähle?«
Emma war bass erstaunt. John lächelte ihr freundlich, beinahe bittend zu. In ihrer alten Welt hätte sie gedacht, er habe sich nun darauf verlegt, sie nicht einfach zu verführen, sondern ihr in aller Form den Hof zu machen. Und in ihrer alten Welt hätte sie auch gewusst, wie sie darauf reagieren sollte.
Hier aber war alles anders.
Hier hatte John noch vor kurzer Zeit einer anderen Frau Blicke zugeworfen, die höchstens in ein Bordell passten. Hier war sie selbst verheiratet mit einem Mann, dem ein verschwundener Eingeborener etwas angetan hatte, von dem niemand auch nur ahnte, was. Hier war sie die Mutter eines Babys, das sie nicht selbst geboren hatte und das überdies schwarz war. Und hier arbeitete sie abends nicht auf dem Sofa sitzend am Stickrahmen, sondern im Staub hockend an wissenschaftlichen Berichten wie ein Mann. Ein abenteuerlustiger Mann.
Verkehrte Welt!, dachte Emma und seufzte. Wie sollte man wissen, was man tun und was man lassen
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