Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
deutlich zu spüren, so als stünde er geduldig und höflich wartend hinter dem Vorhang.
Ein leichter Limettenblütenduft lag in der Luft, überdeckte aber nur notdürftig den Geruch von Desinfektionsmitteln und körperlichem Verfall; Gerüche, die Strike unwillkürlich in das Krankenhaus zurückversetzten, in dem er selbst monatelang hilflos gelegen hatte. Ein weiteres großes Erkerfenster war einen Spalt weit nach oben geschoben worden, damit die warme, frische Luft und die entfernten Rufe der Sport treibenden Kinder ins Zimmer dringen konnten. Der Blick ging direkt auf die Wipfel der belaubten, sonnenbeschienenen Platanen.
»Sind Sie der Privatdetektiv?«
Ihre Stimme war dünn und brüchig; die Worte klangen leicht zittrig. Strike hatte sich insgeheim bereits gefragt, ob Bristow sie über seinen Beruf aufgeklärt hatte, und war froh, dass sie Bescheid wusste.
»Ja, mein Name ist Cormoran Strike.«
»Wo ist John?«
»Er wurde in der Kanzlei aufgehalten.«
»Schon wieder«, murmelte sie und dann: »Tony spannt ihn zu sehr ein. Das ist nicht in Ordnung.« Sie versuchte, Strike mit trüben Augen zu fixieren, und deutete dann mit einem schwach erhobenen Finger auf einen kleinen lackierten Stuhl. »Setzen Sie sich doch.«
Ihre blasse Iris war von kalkigen weißen Linien umgeben. Während Strike sich setzte, fiel sein Blick auf den Nachttisch, auf dem zwei weitere silbern gerahmte Fotos standen. So etwas wie ein elektrischer Schlag durchzuckte ihn, als er unversehens in die Augen eines pausbäckigen zehnjährigen Charlie Bristow mit kurzem Pony und langen Nackenhaaren blickte: bis in alle Ewigkeit in den Achtzigerjahren gefangen und in ein Schulhemd mit langem, spitz zulaufendem Kragen und riesigem Krawattenknoten gezwängt. Er sah genauso aus wie damals, als er sich winkend von seinem besten Freund Cormoran Strike in die Osterferien verabschiedet hatte.
Neben Charlies Bild stand ein kleineres, auf dem ein hübsches, zierliches Mädchen mit langen schwarzen Ringellocken und großen braunen Augen in einer dunkelblauen Schuluniform zu sehen war: Lula Landry, höchstens sechs Jahre alt.
»Mary«, sagte Lady Bristow, ohne die Stimme zu erheben, und die Pflegerin eilte an ihre Seite. »Könnten Sie Mr. Strike etwas zu trinken bringen … einen Kaffee vielleicht? Oder Tee?«, fragte sie ihn, und er fühlte sich um zweieinhalb Jahrzehnte zurückversetzt in Charlie Bristows sonnigen Garten zu der eleganten blonden Mutter und der eiskalten Limonade.
»Ein Kaffee wäre schön, vielen Dank.«
»Bitte verzeihen Sie mir, dass ich ihn nicht selbst mache«, sagte Lady Bristow, nachdem die Pflegerin mit schweren Schritten aus dem Zimmer gegangen war, »aber wie Sie sehen können, bin ich mittlerweile völlig auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen. Genau wie die arme Blanche Dubois.«
Sie schloss kurz die Augen, wie um sich besser auf einen inneren Schmerz konzentrieren zu können. Er fragte sich, wie stark ihre Medikamente waren. Unter ihren tadellosen Manieren erahnte er eine kaum wahrnehmbare Verbitterung, so wie der Limettenblütenduft auch nicht vollends den Verwesungsgeruch überdecken konnte, und das stimmte ihn nachdenklich, denn immerhin verbrachte Bristow einen Großteil seiner freien Zeit damit, ihr aufzuwarten.
»Warum ist John nicht hier?«, fragte Lady Bristow mit geschlossenen Augen.
»Er wurde in der Kanzlei aufgehalten«, wiederholte Strike.
»Ach ja, richtig, das hatten Sie bereits gesagt.«
»Lady Bristow, ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, und ich möchte mich schon vorab entschuldigen, falls sie Ihnen zu persönlich vorkommen oder zu aufwühlend sein sollten.«
»Wenn Sie das durchgemacht haben, was ich durchgemacht habe«, sagte sie leise, »dann kann Sie kaum noch etwas erschüttern. Fragen Sie nur.«
»Danke. Würde es Sie stören, wenn ich mir Notizen mache?«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte sie und sah nur mäßig interessiert zu, wie er seinen Stift und das Notizbuch herausholte.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich zuerst gern darüber unterhalten, wie Lula in Ihre Familie kam. Wussten Sie irgendetwas über ihren familiären Hintergrund, als Sie Lula adoptierten?«
Wie sie mit ihren kraftlosen Armen auf der Decke dalag, erschien sie ihm wie das Sinnbild von Hilflosigkeit und Passivität.
»Nein«, sagte sie. »Ich wusste überhaupt nichts über sie. Vielleicht hat Alec etwas gewusst, aber falls dem so war, dann hat er mir nie davon erzählt.«
»Wie
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