Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
gehüllt, lag sie sterbend vor ihm und präsentierte ihm ihre Hilflosigkeit und Passivität wie teures Geschmeide, und doch merkte er, dass er vor allem Abscheu empfand.
»Ich wollte Lula um jeden Preis haben«, fuhr Lady Bristow fort, »aber ich glaube nicht, dass sie je wirklich … Sie war ein so süßes kleines Ding! So wunderschön! Ich hätte alles für dieses Mädchen getan. Aber sie liebte mich nie so, wie Charlie und John mich liebten. Vielleicht war es damals schon zu spät. Vielleicht bekamen wir sie zu spät.
John war sehr eifersüchtig, als sie zu uns kam. Er war so unglücklich wegen Charlie … Trotzdem wurden sie enge Freunde. Die besten Freunde.«
Eine winzige Falte durchzog die papierdünne Haut auf ihrer Stirn.
»Und Tony lag falsch.«
»Inwiefern lag er falsch?«, fragte Strike leise.
Ihre Finger zuckten über die Decke. Sie schluckte. »Tony war der Meinung, wir hätten Lula nicht adoptieren dürfen.«
»Warum nicht?«, fragte Strike.
»Tony konnte keines meiner Kinder leiden«, antwortete Yvette Bristow. »Mein Bruder ist ein sehr harter Mann. Sehr kalt. Nach Charlies Tod sagte er schreckliche Dinge. Alec hat sich deswegen sogar mit ihm geprügelt. Weil es nicht wahr war. Was Tony sagte, war einfach nicht wahr.«
Ihr milchiger Blick glitt zu Strikes Gesicht hinüber, und er meinte, für einen kurzen Moment die Frau zu erkennen, die sie früher einmal gewesen war, als sie sich noch auf ihr Aussehen verlassen konnte: extrem anhänglich, ein bisschen kindisch, aufreizend unselbstständig, ein überfeminines Geschöpf, beschützt und verhätschelt von Sir Alec, der ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen versuchte.
»Was hat Tony damals gesagt?«
»Schreckliche Dinge über John und Charlie. Grässliche Dinge. Ich will sie«, verkündete sie schwach, »nicht wiederholen. Und als er dann hörte, dass wir ein kleines Mädchen adoptieren wollten, rief er Alec an und sagte ihm, wir sollten das bleiben lassen. Alec hat getobt«, flüsterte sie. »Er hat Tony nicht mehr ins Haus gelassen.«
»Haben Sie das auch Lula erzählt, als sie an jenem Tag zu Besuch war?«, fragte Strike. »Das mit Tony und was er gesagt hatte, nachdem Charlie gestorben war? Als Sie sie adoptierten?«
Sie schien einen Tadel aus seiner Frage herauszuhören.
»Ich weiß nicht mehr genau, was ich zu ihr gesagt habe. Ich hatte soeben eine schwere Operation überstanden. Ich war benommen von den vielen Medikamenten. Ich weiß nicht einmal mehr genau, was ich gerade eben gesagt habe …« Und dann wechselte sie unvermittelt das Thema: »Dieser Junge erinnerte mich an Charlie. Lulas Freund. Dieser hübsche Bursche. Wie heißt er noch?«
»Evan Duffield.«
»Genau. Er kam mich vor Kurzem besuchen, müssen Sie wissen. Erst neulich. Ich weiß nicht mehr genau, wann … Ich verliere allmählich jedes Zeitgefühl. Inzwischen bekomme ich so viele Medikamente. Aber er kam mich besuchen. Das war wirklich reizend von ihm. Er wollte über Lula sprechen.«
Strike dachte an Bristows Behauptung, dass seine Mutter nicht gewusst habe, wer Duffield war, und fragte sich, ob Lady Bristow mit ihrem Sohn vielleicht ein Spielchen getrieben hatte, indem sie sich hilfloser gegeben hatte, als sie tatsächlich war, um seinen Beschützerinstinkt zu wecken.
»Charlie wäre bestimmt genauso hübsch geworden, wenn er nicht gestorben wäre. Vielleicht wäre er jetzt ein Sänger oder Schauspieler. Er führte für sein Leben gern Dinge auf, wissen Sie noch? Dieser Junge, dieser Evan, tat mir leid. Er hat mit mir zusammen geweint. Er erzählte mir, dass er gedacht hätte, sie würde sich mit einem anderen Mann treffen.«
»Mit welchem anderen Mann?«
»Diesem Sänger«, antwortete Lady Bristow nachdenklich. »Diesem Sänger, der Lieder über sie geschrieben hatte. Wenn man jung und schön ist, kann man sehr grausam sein. Er tat mir so leid. Er erzählte mir, dass er sich schuldig fühlte. Ich sagte ihm, er habe dazu keinen Grund.«
»Warum fühlte er sich denn schuldig?«
»Weil er ihr nicht in die Wohnung gefolgt war. Weil er nicht dort war, um zu verhindern, dass sie starb.«
»Könnten wir noch einmal kurz zurückgehen zu dem Tag, bevor Lula starb?«
Sie sah ihn vorwurfsvoll an.
»An mehr kann ich mich wirklich nicht erinnern, fürchte ich. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich noch weiß. Ich war eben aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich war nicht ich selbst. Sie hatten mir so viele Schmerzmittel gegeben.«
»Das verstehe ich. Ich
Weitere Kostenlose Bücher