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Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)

Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)

Titel: Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Galbraith
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und Lula an jenem Tag gesprochen haben?«
    »Sie müssen wissen, ich stand damals unter starken Schmerzmitteln. Ich hatte gerade eine schwere Operation überstanden. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern.«
    »Aber Sie wissen noch, dass Lula Sie besuchen kam?«, fragte Strike.
    »Oh ja«, sagte sie. »Sie weckte mich auf, ich hatte geschlafen.«
    »Wissen Sie noch, worüber Sie sprachen?«
    »Über meine Operation natürlich«, erwiderte sie beinahe spitz. »Und dann eine Weile über ihren großen Bruder.«
    »Ihren großen …«
    »Charlie«, erklärte Lady Bristow wehmütig. »Ich erzählte ihr von dem Tag, an dem er starb. Ich hatte noch nie mit ihr darüber gesprochen. Es war der schlimmste, der allerschlimmste Tag meines Lebens.«
    Strike konnte sich gut vorstellen, wie sie, niedergestreckt und benebelt, aber nichtsdestotrotz voller Groll ihre Tochter gegen deren Willen an ihrem Bett festgehalten hatte, indem sie über ihre Schmerzen und ihren toten Sohn gesprochen hatte.
    »Woher hätte ich wissen sollen, dass ich sie danach nie wiedersehen sollte?«, hauchte Lady Bristow. »Ich hatte doch keine Ahnung, dass ich wenig später zum zweiten Mal ein Kind verlieren würde.«
    Ihre blutgeäderten Augen füllten sich mit Tränen. Sie blinzelte, und zwei dicke Tropfen liefen ihr über die eingefallenen Wangen.
    »Könnten Sie bitte in dem Schubfach dort nachsehen«, flüsterte sie und zeigte dabei mit einem verwitterten Finger auf den Nachttisch, »und mir meine Tabletten reichen?«
    Strike zog die Schublade auf und erblickte einen Stapel weißer Schachteln in verschiedenen Größen und mit verschiedenen Aufdrucken.
    »Und welche …«
    »Egal. Es ist überall das Gleiche drin«, sagte sie.
    Er nahm eine Schachtel heraus; sie war klar und deutlich mit »Valium« beschriftet. Ihr Vorrat reichte leicht für eine zehnfache Überdosis.
    »Wenn Sie mir ein paar davon aus der Folie drücken könnten?«, bat sie ihn. »Ich nehme sie mit etwas Tee, wenn er inzwischen abgekühlt ist …«
    Er reichte ihr die Tasse und die Tabletten; ihre Hände zitterten; er musste die Untertasse festhalten und dabei unwillkürlich an einen Priester denken, der die heilige Kommunion verabreichte.
    »Danke«, murmelte sie und sank, während er den Tee auf den Tisch zurückstellte, wieder in ihre Kissen, um ihn mit klagendem Blick anzusehen. »Hat John mir nicht erzählt, dass Sie Charlie gekannt haben?«
    »Das stimmt«, sagte Strike. »Ich habe ihn nie vergessen.«
    »Nein, natürlich nicht. Er war ein so liebenswertes Kind. Das haben immer alle gesagt. Der süßeste Junge, der mir je begegnet ist, der allersüßeste. Ich vermisse ihn jeden einzelnen Tag.«
    Während vor dem Fenster die Kinder schrien und die Platanen rauschten, stellte Strike sich vor, wie das Zimmer wohl an einem Wintermorgen vor mehreren Monaten ausgesehen haben mochte, als die Bäume noch kahl in den Himmel geragt hatten und Lula Landry dort gesessen hatte, wo er jetzt saß, den Blick vielleicht auf das Bild des toten Charlie geheftet, während ihre benommene Mutter ihr die schreckliche Geschichte erzählt hatte.
    »Ich hatte bis dahin nie wirklich mit Lula darüber gesprochen. Die Jungs waren mit den Rädern losgezogen. Wir hörten John schreien und dann Tony rufen, rufen …«
    Strikes Stift hatte das Papier noch kein einziges Mal berührt. Er beobachtete das Gesicht der sterbenden Frau, während sie erzählte.
    »Alec erlaubte mir nicht, ihn noch einmal zu sehen, ich durfte nicht einmal in die Nähe des Steinbruchs. Als er mir berichtete, was geschehen war, fiel ich in Ohnmacht. Ich dachte, ich müsste sterben. Ich wollte sterben. Ich konnte nicht verstehen, wie Gott so etwas zulassen konnte. Seither hat sich mir immer stärker der Gedanke aufgedrängt, dass ich es vielleicht nicht anders verdient habe«, sagte Lady Bristow gedankenverloren, den Blick an die Decke gerichtet. »Ich habe mich oft gefragt, ob ich nicht vielleicht bestraft werde. Weil ich sie zu sehr geliebt habe. Ich habe sie verwöhnt. Ich konnte einfach nicht Nein sagen. Weder bei Charlie noch bei Alec und Lula. Es muss doch eine Strafe sein; weil es ansonsten unaussprechlich grausam wäre, oder? Mich das wieder und wieder und wieder durchmachen zu lassen?«
    Strike hatte keine Antwort darauf. Zugegeben, sie bot ein mitleiderregendes Bild, aber er merkte, dass er sie nicht annähernd so sehr bedauern konnte, wie sie es möglicherweise verdiente. In die unsichtbaren Roben ihres Martyriums

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