Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
Cross Road, wo die Scheinwerferlichter in den Pfützen funkelten und die freitäglichen Nachtschwärmer mit wippenden Schirmen am Ende der Denmark Street vorbeizogen und dabei so laut lachten, dass es über den Verkehr bis zu ihm hinaufdrang. Wann würde er wohl wieder an einem Freitag mit Freunden im Pub sitzen? Die Vorstellung schien aus einem anderen Universum, einem längst zurückgelassenen Leben zu stammen. Ewig konnte er dieses bizarre Halbleben, in dem er zurzeit feststeckte und – abgesehen von Robin – keine zwischenmenschlichen Kontakte hatte, nicht weiterführen, aber er war noch nicht wieder bereit, sich ein normales Sozialleben aufzubauen. Er hatte seinen Platz in der Army verloren, er hatte Charlotte verloren und obendrein ein halbes Bein; er hatte das Gefühl, dass er sich erst wieder an den Mann gewöhnen musste, zu dem er geworden war, bevor er sich der Bestürzung und dem Mitleid seiner Mitmenschen aussetzte.
Die rot glühende Kippe flog hinaus auf die dunkle Straße und erlosch im nassen Rinnstein; Strike schob das Fenster wieder zu, kehrte an den Schreibtisch zurück und zog die Akte entschlossen zu sich heran.
Derrick Wilsons Aussage enthielt nichts, was er nicht bereits wusste. In der Akte wurden weder Kieran Kolovas-Jones noch sein mysteriöses blaues Blatt Papier erwähnt. Daher nahm Strike sich als Nächstes gespannt die Aussagen der beiden Frauen vor, mit denen Lula ihren letzten Nachmittag verbracht hatte: Ciara Porter und Bryony Radford.
In der Erinnerung der Visagistin war Lula gut gelaunt gewesen und hatte sich auf Deeby Maccs Ankunft gefreut. Porter hingegen hatte ausgesagt, Landry sei »nicht sie selbst« gewesen, sie habe »niedergeschlagen und ängstlich« gewirkt, habe aber nicht darüber sprechen wollen, was ihr so zusetzte. Porters Aussage enthielt ein bemerkenswertes Detail, von dem Strike bis dato nichts gewusst hatte: Das Model versicherte, dass Landry an jenem Nachmittag ausdrücklich davon gesprochen hatte, sie habe vor, »alles« ihrem Bruder zu hinterlassen. Der Kontext war zwar nicht ersichtlich; doch blieb der Eindruck einer jungen Frau, die sich mit Todesgedanken trug.
Strike fragte sich, warum sein Auftraggeber ihm nichts von dieser Absichtserklärung seiner Schwester erzählt hatte. Natürlich besaß Bristow bereits einen Treuhandfonds. Vielleicht war für ihn die Aussicht, noch mehr Geld zu besitzen, bedeutend weniger erwähnenswert als für Strike, der noch nie auch nur einen Penny geerbt hatte.
Gähnend zündete sich Strike die nächste Zigarette an, um wach zu bleiben, und begann, die Aussage von Lulas Mutter zu lesen. Nach Lady Yvette Bristows eigener Darstellung hatte sie sich nach ihrer Operation benommen und schwach gefühlt; dennoch bestand sie darauf, dass ihre Tochter »bester Laune« gewesen sei, als sie an jenem Vormittag zu Besuch gekommen war, und dass sie mit großem Mitgefühl ausschließlich über Lady Bristows Gesundheitszustand sowie die Aussichten auf Genesung gesprochen habe. Vielleicht lag es an der stumpfen, flachen Prosa des vernehmenden Polizisten, aber für Strike klangen ihre Schilderungen, als sei sie fest entschlossen gewesen, alles Unangenehme zu verdrängen. Sie war als Einzige der Auffassung, dass Lulas Tod ein Unfall gewesen, dass sie irgendwie versehentlich über das Balkongeländer gefallen sei; schließlich, so Lady Bristow, sei es eine eisige Nacht gewesen.
Strike überflog auch John Bristows Angaben, die in jeder Hinsicht mit dem übereinstimmten, was er ihm persönlich erzählt hatte, und widmete sich dann der Aussage von Johns und Lulas Onkel. Tony Landry hatte Yvette Bristow an Lulas Todestag zur selben Zeit besucht wie Letztere und versichert, dass ihm seine Nichte »normal« vorgekommen sei. Danach sei er mit dem Auto nach Oxford gefahren, wo er an einer Konferenz über internationale Entwicklungen im Familienrecht teilgenommen und anschließend im Malmaison Hotel übernachtet habe. Den Angaben über die Fahrt nach Oxford folgten einige unverständliche Kommentare über diverse Anrufe. Um sie zu erhellen, vertiefte sich Strike in die ausgedruckten Einzelverbindungsnachweise.
In der Woche vor ihrem Tod hatte Lula ihren Festnetzanschluss kaum und an ihrem Todestag kein einziges Mal benutzt. Dafür hatte sie von ihrem Handy aus am letzten Tag ihres Lebens nicht weniger als sechsundsechzig Anrufe getätigt. Als Erstes hatte sie morgens um 9.15 Uhr Evan Duffield angerufen; danach um 9.35 Uhr Ciara Porter. Es folgte eine
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