Der Ruf des Kulanjango
einem dickbäuchigen Baum saß, im Schatten versteckt, eine Gruppe Männer. In der prallen Sonne hatten Frauen in farbenfroh gemusterten Kleidern Früchte und Gemüse zum Verkauf ausgelegt.
Das letzte Foto zeigte Iris in Max’ Schuppen.
»Klar, dass wir kein Signal von Iris empfangen konnten«, brummte Euan, »wenn sie in einer dunklen Scheune ist.«
»Man kann tatsächlich den Sender auf ihrem Rücken sehen und die lange Antenne«, bemerkte Rob. »Ohne dieses Ding wäre sie jetzt schon tot.«
Ich nickte. »Ihr wird es jetzt besser gehen«, sagte ich. »Da bin ich mir ganz sicher.«
»Wir könnten Jeneba ein paar Fotos von Schottland schicken«, schlug Euan vor.
»Au ja! Wir machen ein Foto vom Horst«, sagte ich. »Ichfrage Mum nach der Schule, ob wir ihren Fotoapparat haben dürfen.«
Mum saß am Küchentisch über der Buchhaltung. Sie gab uns die kleine Digitalkamera, die sie immer in der Handtasche hatte. »Vergesst nicht, auch ein paar Fotos von euch zu machen«, sagte sie. »Jeneba wird bestimmt wissen wollen, wie ihr ausseht.«
Graham lehnte sich über den Tisch und angelte sich noch ein riesiges Stück Schokoladenkuchen. »Callums hässliche Visage will sie bestimmt nicht sehen«, sagte er und ließ dabei klebrige Krümel auf die Geschäftsunterlagen fallen. »Das könnte den Computer noch mal abstürzen lassen. Mich wundert’s ja, dass sie in Uganda überhaupt Computer haben.«
»Gambia«, verbesserte ich ihn. »Heutzutage gibt es überall Computer.«
Mum schnippte die Krümel von den Papieren. »Du langweilst dich im Augenblick, stimmt’s, Graham? Mach dich nützlich und fahr Callum und seine Freunde mit dem Landrover raus, damit sie Fotos von unserem Land machen können, bevor es dunkel wird.«
Graham rollte mit den Augen. »Na dann, auf geht’s!«, sagte er. Er griff sich die Autoschüssel und ging aus der Tür.
Mein Bruder fuhr uns querfeldein. Plötzlich waren wir Rallyefahrer. Ich bin mir sicher, Mum hätte Zustände bekommen, wenn sie einige von Grahams Vollbremsungen gesehen hätte.
Aber wir machten ein paar tolle Aufnahmen. Graham schoss ein Bild von uns mit den Bergen im Hintergrund und ich fotografierte den Horst auf der Insel. Als wir zum Hof zurückkehrten, knipsten wir sogar den von Mum extra aufgetauten Haggis.
Später am Abend lud ich die Fotos auf den Computer und hängte sie an eine E-Mail. Ich drückte auf ›Senden‹ und unsere Fotos aus Schottland flogen im Bruchteil einer Sekunde durch den Cyberspace bis zu Jeneba und Iris. Bis nach Afrika.
Jeneba berichtete nun jeden Tag von Iris und schickte noch mehr Fotos, die Max aufgenommen hatte. Mit der Zeit sah Iris kräftiger aus. Ihr Federkleid funkelte und glänzte wieder. Ein Bild zeigte sie, wie sie auf einem Stück Holz saß und sich putzte. Das musste ein gutes Zeichen sein. Auch die Wunde an ihrem Fuß sah besser aus. Auf den ersten Bildern hatte sie noch schlimm ausgesehen, ein dicker, schmutzverkrusteter Klumpen aus rohem Fleisch, und die Haut an ihrem Fuß war fleckig und dunkel. Aber jetzt, knapp zwei Wochen später, sah man, dass die Wunde schon gut verheilt war.
Max hatte zudem Fotos und kurze Videoclips vom Dorf und vom Fluss gemacht. Ich hatte das Gefühl, wirklich dort zu sein. Beinahe konnte ich mir vorstellen, wie ich zum breiten grünen Fluss hinunterging, wo die langen hölzernen Fischerboote bei Ebbe im Schlamm lagen. Beinahe konnte ich die brennend heiße afrikanische Sonne auf meinem Gesichtspüren und die Geräusche des Dorfes hören, spielende Kinder und Frauen, die in Mörsern Hirsekörner zerstießen. Beinahe war ich dort. Beinahe.
In dieser Nacht wartete eine neue E-Mail auf mich.
Von: Jeneba Kah
Gesendet: 25. Oktober, 20:40 WEZ
Betreff: Iris
Hallo Callum,
morgen ist ein sehr guter Tag. Max hat sich entschieden, Iris freizulassen. Er sagt, sie ist jetzt kräftig genug und muss in die Wildnis zurück. Er wird sie zum Sonnenaufgang freisetzen, damit sie den ganzen Tag Zeit hat, Fische zu fangen.
Doktor Jawara sagt, dass er mir morgen den Gips von den Beinen nimmt. Also werde auch ich frei sein.
Ich bin viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Aber Mama Binta hat gesagt, dass sie mir erlaubt, Max zuzusehen, wie er Iris freilässt, wenn ich schlafen gehe. Ich glaube, vielleicht ist Mama Binta gar nicht so böse, wie sie immer tut.
Morgen Abend werde ich Dir gute Neuigkeiten schreiben.
Deine Freundin Jeneba
Kapitel 32
Am nächsten Tag raste ich von der Schule nach Hause, um meine E-Mails
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