Der Ruf des Kulanjango
zu checken. Nichts. Ich saß fast den ganzen Abend am Computer, aber es kam keine Nachricht von Jeneba. Nicht an diesem Abend. Nicht am nächsten Tag. Nicht am übernächsten Tag. Ich schickte ihr E-Mails, erhielt jedoch keine Antwort.
Ich saß mit Rob und Euan im Medienraum der Schule. Wir sollten Recherchen über die Französische Revolution anstellen.
»Vielleicht haben sie einen totalen Stromausfall«, sagte Euan.
»Hast du nach Iris geguckt?«, fragte Rob. »Wenn sie sie freigelassen haben, würden wir doch ein Signal kriegen?«
Ich hatte nicht geguckt. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen.
Euan hielt nach unserer Lehrerin Ausschau und ich tippte Iris’ Code ein.
Das Signal war stark und klar. Es zeigte uns, dass sie amMontagmorgen von Jenebas Dorf aus über den Fluss geflogen war und den ganzen Tag an einem kleinen Wasserlauf zugebracht hatte. Am nächsten Tag war sie nahe der Grenze zum Senegal die Küste entlang nach Norden geflogen.
»Sie haben es getan«, sagte Euan, »sie haben sie freigelassen.«
»Aber wir haben nichts von Jeneba gehört«, wand ich ein.
Euan schaute mir über die Schulter. »Wir können nichts weiter tun als warten.«
Eine ganze Woche mussten wir warten, bevor wir eine Nachricht bekamen.
Von: Jeneba Kah
Gesendet: 3. November, 16:00 WEZ
Betreff: Iris
Hallo Callum!
Entschuldige bitte, dass ich nicht geschrieben habe, aber mir ging es nicht gut. Mir wurde der Gips abgenommen, aber die Brüche in einem Bein sind zu schlimm und meine Knochen waren nicht verheilt. Ich habe eine böse Entzündung und deshalb bekam ich Fieber. Dr. Jawara glaubt, dass er das Bein amputieren muss.
Vergangene Nacht hat mein Vater den Marabut aufgesucht. Der Marabut hatte wieder eine Vision. Dieses Mal sah er mich hoch über der Welt durch ein Meer aus weißen Wolken gehen. Mein Vater glaubt, das würde bedeuten, dass ich sterben müsste. Der Marabut irrt sich nie. Was mir am meisten Angst macht, ist der Gedanke, nie wieder gehen zu können.
Ich habe ein Foto beigefügt, von Iris an dem Tag, als wir sie freigelassen haben. Max hat mir erlaubt, das zu tun. Ich war so glücklich, sie mit ihren starken Schwingen davonfliegen zu sehen. Am liebsten wäre ich ihr hinauf in den Himmel gefolgt. Alle Dorfbewohner waren dabei und sie haben gejubelt und geklatscht. Sogar Mama Binta hatte Tränen in den Augen. Sie hat gesagt, sie habe ein Staubkorn im Auge, aber Max und ich haben ihr das nicht geglaubt.
Ich schreibe Dir, wenn ich kann. Ich denke jeden Tag an Dich und an Iris.
Deine Freundin Jeneba
Ich öffnete den Anhang. Ein gutes Foto, ein Schnappschuss von Iris, wie sie gerade aus Jenebas Händen platzte, mit ausgebreiteten, riesigen Schwingen, die glühenden gelben Augen zum Himmel gerichtet. Das war fast eine exakte Kopie des Augenblicks, als Iona und ich Iris freigelassen hatten, vor all den Monaten. Eigentlich hätte ich beim Anblick des Fotosden gleichen Nervenkitzel spüren müssen wie damals. Aber nein.
Ich fühlte nichts weiter als einen dumpfen Schmerz tief drinnen in meiner Brust. Jeneba war Tausende von Kilometern von mir entfernt. Sie war sehr krank. Und plötzlich kam ich mir ganz und gar hilflos vor.
Kapitel 33
»Ich versteh nicht, warum sie ihre Beine nicht in Ordnung bringen können«, sagte Rob. »Ich mein, wo doch diese Rennfahrer bei einem Crash ziemlich übel zerschmettert werden und Tonnen Metall in ihren Beinen haben. Manchmal zeigen sie doch solche Röntgenbilder in den Zeitungen, ein Haufen Schrauben und Metallschienen, mit denen die Knochen zusammengehalten werden.«
»Vielleicht kann sich ihre Familie so was nicht leisten«, meinte Euan.
»Ich hab vierhundert Pfund auf dem Sparbuch«, überlegte ich. »Mum hat gesagt, ich darf es nicht ausgeben, bis ich älter bin, aber dafür würde ich es hernehmen.«
»Ich hab zwanzig Pfund«, sagte Rob. »Was glaubst du, was das kostet?«
»Schreiben wir doch und fragen«, schlug Euan vor. »Das ist der einzige Weg, es herauszufinden.«
Und wir schrieben. Rob und Euan spielten in meinem Zimmer gerade Computerspiele, als die Antwort kam.
Von: Max Walker
Gesendet: 6. November, 14:20 WEZ
Betreff: Jeneba
Hallo Callum!
Hier schreibt Dir Max. Jeneba ist im Augenblick sehr krank. Das Fieber hat sie fest im Griff und Dr. Jawara glaubt, sie könnte auch noch Malaria haben. Tut mir leid, dass ich ihr Deine E-Mail nicht zeigen kann, aber das könnte falsche Hoffnungen bei ihr wecken. In Eurem Land oder in Amerika könnten ihre
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