Der Ruf des Satyrs
er den Rauchfaden betrachtete, der von seiner Zigarre ausging. »Dachte, deswegen seien Sie hier«, spottete er. »Weil Sie einen Vater haben wollen.«
Eva schnappte angesichts dieses Affronts nach Luft. Sie drehte sich auf dem Absatz um und hastete wütend davon, verfolgt von seinem höhnischen Gelächter. Nun gut, ein weiterer Name, den sie von ihrer Liste streichen konnte. Was für ein grässlicher Mann!
Zum Glück war er
nicht
ihr Vater!
»Und?«, fragte Odette, als Eva sich am Rand der Ruinen entlang der Via Sacra zu ihr gesellte.
Eva schüttelte den Kopf. »Er war es nicht. Er ist abscheulich. Wie konnte
Maman
nur mit ihm verkehren, selbst wenn es nur flüchtig war?«
Odette zuckte mit den Schultern. »Fantine war verrückt nach Männern. Und die waren alle nett zu ihr, auch wenn se sie nich’ ins Bett gelassen hat. Hat uns ’n gutes Leben gebracht. Solang’s gedauert hat. Und was machste jetzt?«
»Es gibt noch einen letzten Namen auf meiner kurzen Liste, den ich überprüfen möchte, bevor ich die ganze Liste noch einmal nach Möglichkeiten durchgehe, die ich übersehen haben könnte«, erklärte Eva. »Angelo Sontine. Aber meine Nachforschungen über ihn haben bisher noch nichts ergeben.«
»Is’ auch besser so«, schnappte Odette. »Kommt nix Gutes bei raus, wennste da immer guckst.«
»Das sehe ich anders. Ich …« Überrascht blieb Eva stehen. Ein Stück weit entfernt von ihnen an der Via Sacra stand Dane am Eingang zum Mamertinischen Kerker. Mit Alexa und ihrer Mutter.
Odette packte sie am Handgelenk. »Zu dem gehste jetz’ nich’ rüber, sonst vergess ich mich!«
»Natürlich nicht«, erwiderte Eva und machte sich los. »Er ist anderweitig beschäftigt, und es ist Zeit, die Mädchen vom Musikunterricht abzuholen. Aber ich
werde
ihn heute Abend treffen«, fügte sie betont hinzu. »Auf einer Veranstaltung im
Circo Massimo,
wenn das Wetter hält.« Sie schlenderten weiter, und Eva fragte sich, was um alles in der Welt Alexa und ihre Mutter mit Dane zu besprechen haben konnten. Und das ausgerechnet im Kerker des antiken Rom.
»Signor Satyr?«
Dane umklammerte das Geländer des Vorbaus zu den alten Mamertinischen Kerkern und sog tief Luft in seine Lungen, um die Panik zu bekämpfen. Gerade erst hatte er sich tief in diese engen zerfallenden Zellen gewagt, und sie hatten heftige Platzangst in ihm ausgelöst. Er hatte es nur ein paar Minuten ausgehalten, aber das war mehr als genug gewesen.
Ihm stand der Sinn gerade ganz und gar nicht nach Gesellschaft, doch genau jetzt kamen Mutter und Schwester von Gaetano Patrizzi die Treppen zum Vorbau herauf und hielten direkt auf ihn zu. Serafina und Alexa. Er hatte sie beide vergangene Nacht auf der Gala getroffen. Eva hatte sie einander vorgestellt. Was zum Teufel machten sie hier?
Der alte Kerker befand sich auf dem Kapitolinischen Hügel, der an das Forum angrenzte, nahe der Stelle, wo man ihn an jenem Tag ein Jahr nach seiner Entführung gefunden hatte, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und umherirrend. Auf seiner Suche nach Antworten war er heute hierhergekommen.
Ein isolierter Kerker erschien perfekt als der Ort, an dem er und Luc einst gefangen gehalten worden waren, vielleicht in irgendeinem unterirdischen Raum. Erbaut vor über zweitausend Jahren, diente der Kerker teilweise als Zisterne, mit einer Quelle am Grund nahe der Zellen, in die man in der Antike die Gefangenen geworfen und dann erdrosselt oder den Hungertod hatte sterben lassen. Der Kerker war mit der Cloaca Maxima verbunden, laut Bastian dem ersten gutentwickelten Abwassersystem der Geschichte. Vor langer Zeit hatten die Regierungen dieses System als diskreten Weg genutzt, um die Leichen der toten Gefangenen in den Tiber zu spülen. Was, wie er glaubte, eine mögliche Erklärung für das jetzige Auftauchen der toten Feen im Fluss darstellte.
Doch bisher erschien ihm hier nichts vertraut, und er hatte keinerlei Beweise dafür gefunden, dass hier kürzlich irgendwelche Gefangenen untergebracht worden waren. Noch gab es irgendwelche Vorräume von den Hauptzellen darunter, in denen er und Luc vor all diesen Jahren hätten eingesperrt gewesen sein können. Wieder eine Sackgasse!
»Dürften wir kurz privat mit Ihnen sprechen?«, fragte Signora Patrizzi. Dane zuckte mit den Schultern und bedeutete ihnen, im Hauptraum auf einer Bank an der Wand Platz zu nehmen. Zu dieser Stunde hielt sich sonst noch niemand hier auf, und der Raum war feuchtkalt und unbehaglich. Seine
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