Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
Nirgends mehr ein intaktes Haus. Fenster und Türen waren, wenn überhaupt, mit Pappe, Plast- oder Blechtafeln verschlossen. Weder Läden noch Gaststätten. Besonders auffallend: nirgends Reklame. Eine geradezu wohltuende optische Stille gegenüber den schreienden Farben, Lichtern und Tönen der Chicago ansonsten überwuchernden, alle Nischen besetzenden Werbung. Farbtupfer in diesem Grau in Grau boten nur Vernichtung und Verfall, Rost und Nickelfraß, Chromverätzungen und die tausend Nuancen der Plastpest, Reste abblätternder Farbe und die zumeist abenteuerlichen Kleidungsstücke der wenigen Menschen, die mit fast peinigender Langsamkeit durch die öden Straßen schlichen. Und die Feuer.
Timothy war bald aufgefallen, daß es hier, wo doch nicht einmal die elementarsten städtischen Dienste aufrechterhalten wurden, so wenig Müll gab, weit weniger als in den Slums der Underdogs, in denen gerade die Müllabfuhr immer wieder versagte. Gewiß, was der eine wegwarf, konnte vielleicht noch ein anderer gebrauchen, dann aber beobachtete er, daß die Leute mit schon automatisch anmutenden Bewegungen im Vorbeigehen mit langen Stöcken alles auffischten, was herumlag, es kurz betrachteten und einsteckten – alle hatten irgendeine Art Sack oder Beutel bei sich – oder im Weiterschlendern dem nächsten der überall glimmenden Feuer übergaben, eine einfache, aber äußerst wirkungsvolle Form von öffentlicher Hygiene, die die Angst vor Seuchen den Andymen aufgezwungen haben mochte.
Das Straßenbild veränderte sich. Nicht, daß die Häuser jetzt besser erhalten waren, doch nun waren mehr Menschen unterwegs, und die ersten Straßenhändler mit Bauchläden tauchten auf.
»Auch ein Sieg über die Allmacht der Konzerne«, kommentierte Smiley bissig, »Rückkehr zur freien Marktwirtschaft: Alles wird von allen auf der Straße gehandelt!«
»Was ist mit Wasser und Energie?« erkundigte sich Timothy.
»Einige Unternehmen unterhalten Zapfstellen und vergeben Konzessionen an Scandymen, die Wasser und Gas in Flaschen abfüllen oder Batterien aufladen. Das ist alles. Und es kostet ein Vielfaches dessen, was unsereins schon berappen muß.«
»Niemand ist so arm, als daß nichts mehr an ihm zu verdienen wäre«, knurrte Timothy.
Die ersten Wandbilder tauchten auf. Der Bus stoppte jedesmal, damit die Touristen Aufnahmen machen konnten. Jetzt verstand Timothy, warum oft so schwärmerisch von diesen Bildern gesprochen wurde: phantastische, surrealistische Gemälde von eigenartiger Farbgebung, von fremdartiger, unirdischer Schönheit, Bilder, die nur dem Unterbewußtsein völlig von Drogen verformter Gehirne entspringen konnten, Produkte absolut schranken- und hemmungsloser Phantasie, Orgien psychedelischer Räusche. Was auf den Reproduktionen nur befremdlich oder abstoßend gewirkt hatte, leuchtete hier, in dieser von Gott und den Menschen verlassenen trüben Betonwüste, zu höllischer Pracht auf.
Dazu die Noland-Sgraffiti, zumeist mit Spraydosen auf Wände gesprüht, rohe, barbarische Zoten, aber auch feinfühlige und tiefsinnige Wortspielereien: »Pinks of punks« oder »We are all strangers in estrangement«, Losungen des 20. Jahrhunderts prangten hier in ungebrochener Lebendigkeit: »Make love but pove« oder »Stop the world, I want to jump« und immer wieder »Death is so permanent!«. Dann, in riesengroßen Lettern an einer Giebelwand, wie die Summe aller Erfahrungen: »Oh, mankind, what a progress: from stone age to stone cage !« 48
Ja, dachte Timothy, die Sprache der Phantasie und die Phantasie der Sprache sind oft das einzige, was den Deklassierten bleibt. Und wie vielen nicht einmal das. Ausbeutung und Verelendung, das hieß ja längst nicht mehr nur körperlicher Verschleiß und materielle Armut, das äußerte sich vor allem in der massenhaften psychischen Verelendung. Von relativ harmlosen Psychosen, die irgendwann fast jeden trafen, bis zum Wahnsinn. Ein nicht geringer Teil der Menschen da draußen bestand aus Spandymen, mehr oder weniger Irren, die aber noch klar genug gewesen waren, vor dem unbarmherzigen Zugriff der psychiatrischen Polizei in die Nolands zu flüchten, oder die von ihren Verwandten dorthin gebracht worden waren, bevor man sie als »lebensunwert« eliminierte; denn wer so weit zerbrochen war, daß er nichts mehr »wert«, das heißt nicht verwertbar war, wer nicht mehr als »Oddjobber« gelten konnte, sondern als »Gutjobber« eingestuft und auch nicht als »Q-5-Check-neck« angenommen wurde, 49
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