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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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Leselampe neben ihr. Sie hatte ihr Notizbuch dabei – immer trug sie ihr Notizbuch mit sich herum, dieses Buch machte Ruth halb verrückt –, und sie schrieb, den Kopf tief über die Seite gebeugt. »Laura« – Ruths Stimme war fest, vertraulich, voller Frohsinn –, »ich möchte dir Brie Sullivan vorstellen, sie ist eben hier angekommen.«
    Laura blickte durch den vielgerühmten schwarzen Pony zu ihnen auf, und Ruth bekam einen Schock. Sie sah furchtbar aus. Sie wirkte ausgemergelt, verwirrt, es schien, als tränke sie heimlich, lebte in der Gosse, suchte nachts Friedhöfe heim. Krebs – das Wort zuckte Ruth durch den Kopf –, ein inoperabler Tumor. Zwei Monate. Vielleicht drei. Dann aber lächelte Laura und war plötzlich wieder sie selbst, königlich, unangreifbar, die asketische Schönheit mittleren Alters mit dem verzehrenden Blick und der großartigen Figur. Sie reichte Brie die Hand. »Schön, dass Sie bei uns sind«, sagte sie.
    Brie druckste herum, zog die Schultern nach hinten, blies sich das Haar aus der Stirn. Sie bereitete sich regelrecht für einen Auftritt vor. Laura blinzelte sie noch verwirrt an, da brach schon der Redeschwall los. »Ich fühle mich geehrt«, begann Brie, die sich bemühte, ihre Stimme zu beherrschen, aber sie kam zu hoch heraus, überschlug sich vor Ehrfurcht und Aufregung. »Ich meine, ich bin total hin und weg. Echt. Ich meine, Ihre ›Bay-Light-Trilogie‹, also nachdem ich die gelesen hatte, da konnte ich lange Zeit überhaupt nichts anderes mehr lesen, ein paar Jahre lang … Ich glaube, ich kenne jedes Wort darin auswendig. Ich, ich bin – das hier ist wirklich großartig, es ist eine Ehre, es ist – es ist –«
    »Kennen Sie die Geschichte von Masada?«, fragte Laura plötzlich, warf einen Blick auf die Buchseite in ihrem Schoß und sah dann wieder zu ihnen auf – zu Brie und auch zu Ruth. »Ruth, du wirst sie doch bestimmt kennen?«
    Masada? Wovon redete sie nur? War das ein Ratespiel oder was? »Du meinst, wo sich die Juden umgebracht haben?«
    »73 nach Christi war das, am fünfzehnten April. Massenselbstmord. Ich lese gerade einiges darüber. Auch über Jonestown. Und über die Japaner auf Saipan und Okinawa. Hast du schon mal von Saipan gehört? Da stürzten sich Frauen und Kinder in den Abgrund, schnitten sich die Gedärme heraus, schluckten Zyankali und Benzin.« Lauras Stimme war ruhig, etwas heiser an den Rändern ihrer exotischen Zerstörtheit.
    Brie prustete sich ins Stirnhaar, nahm ihr Glas von einer Hand in die andere; sie wirkte deutlich ratlos. Auch Ruth wusste nicht recht, was sie sagen sollte – das war kein Cocktailpartygeplauder, das war weder Klatsch und Tratsch über Verlage, noch war es witzig, es war morbide und deprimierend. Kein Wunder, dass Laura immer allein saß, kein Wunder, dass sie aussah, als wäre sie halb tot. »Wie schrecklich«, sagte Ruth schließlich und wechselte einen Blick mit Brie.
    »Die US -Marineinfanterie stand kurz vor der Landung, und die Zivilbevölkerung war von der japanischen Armee im Stich gelassen worden. Es ging das Gerücht, um zur Marineinfanterie zu kommen, müsste man vorher die eigenen Eltern ermorden. Könnt ihr euch das vorstellen? So haben die von uns gedacht. Die Japaner – lauter Zivilisten, Frauen und Kinder – stürzten sich lieber von einer Steilküste ins Meer, als in die Hände solcher Ungeheuer zu fallen.«
    Ruth sagte gar nichts. Sie nahm nervös einen Schluck von ihrem zweiten Bourbon – oder war es ihr dritter? Worauf wollte Laura hinaus?
    »Ja, darüber hab ich mal was gelesen – die Leute waren wie Lemminge oder so«, verkündete Brie und ließ sich auf einer Sessellehne gegenüber von Laura nieder. »Wenn ich recht überlege, dann hieß die Erzählung auch ›Lemminge‹ – ja, so hieß sie, ganz sicher. Glaube ich.«
    »Genau.« Laura Grobian fixierte sie mit ihrem gehetzten – und, wie Ruth allmählich fand, auch leicht irren – Blick. »Massenhysterie«, sagte sie und schien die Zischlaute zu genießen. »Massenselbstmord. Eine Frau tritt an den Rand des Abgrundes, ein Baby an die Brust gedrückt, neben sich ihr fünfjähriges Kind. Rings um sie herum springen die Menschen hinab, schreien und weinen. Alle ihre Instinkte sträuben sich dagegen, aber sie tut es dennoch, stößt das ältere Kind in den Abgrund, die kleinen Gliedmaßen fuchteln und schlagen in der dünnen Luft, und dann folgt sie ihm in die Tiefe. Und das alles, weil sie uns für Ungeheuer hielten.«
    Ruth hatte

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