Der Samurai von Savannah
einen harten Tag gehabt – das völlig ruinierte Studio, der totale Zusammenbruch ihrer schriftstellerischen Arbeit und jeglicher Inspiration, dazu die Aufregung über Hiros Ausbruch und Saxbys Anruf, ganz zu schweigen von der Szene mit Turco am Vorabend –, und sie konnte so etwas überhaupt nicht brauchen, nicht jetzt, nicht einmal von Laura Grobian. Aber wie dem entrinnen? Und weil sie nicht weiterwusste, weil die Situation ihr so unangenehm war, stellte sie die verbotene Frage: »Du arbeitest wohl gerade an einem Essay? Oder an einem neuen Roman?«
Laura antwortete nicht sofort, und für kurze Zeit fragte sich Ruth sogar, ob sie sie überhaupt gehört hatte. Dann jedoch murmelte sie, vage und wie aus großer Ferne: »Nein. Eigentlich nicht. Aber ich finde … das Thema … fasziniert mich wohl.« Und dann war sie wieder bei ihnen, zuckte die Achseln und nahm ihr Sherryglas vom Tisch.
Für Ruth klang es wie ein Abschluss, und sie überlegte schon, wie sie diesen wüsten, düsteren Auftritt Laura Grobians später im Billardzimmer persiflieren könnte und ob sie das wagen würde, als plötzlich das allgemeine Raunen im Raum verstummte und alle den Kopf zum Eingang wandten. Die zwei anderen Neuzugänge kamen gerade zum Cocktail herein. Beide. Zusammen.
Ruth sah Brie zur Tür hinüberblinzeln, in Erwartung einer weiteren Offenbarung, der nächsten Erscheinung von irdischer Prominenz, sie sah, wie Brie sich zu ihr umdrehte und stirnrunzelnd mit den Lippen eine Frage formte: »Ist das nicht –?«
»Orlando Seezers«, sagte Ruth.
Die Gestalt war unverkennbar. Ruth war ihm zwar nie zuvor begegnet, aber sie kannte ihn von Fotos. Er war ein etwa sechzigjähriger Schwarzer mit Spitzbart und an einen chromblinkenden Rollstuhl gefesselt. Während der Studentenunruhen in den Sechzigerjahren war er schwer verletzt worden, in einer Auseinandersetzung mit einem Kommilitonen, der angeblich nur zu einer bestreikten Vorlesung gehen wollte. Das war an der New York University gewesen, erinnerte sich Ruth, auf einer Treppe. Vor seinem Unfall schrieb Seezers bitter-süße Blankverse über Blues- und Jazzgrößen und wilde, feurige Polemiken, derentwegen er des Öfteren mit James Baldwin und Eldridge Cleaver verglichen wurde; danach schrieb er Sestinen und eine Serie von enorm populären Sittenkomödien über das Leben der Leute auf der Upper East Side.
»Und –?«, fragte sich Brie laut, wobei sie derartig die Augen zusammenkniff, dass ihr Gesicht in sich zusammenzuschrumpfen drohte.
»Mignonette Teitelbaum.« Auch sie kannte Ruth nicht persönlich, aber Septima hatte ihr erzählt, wer zusammen mit Orlando Seezers käme – »Wie ich höre, sind die zwei ja praktisch unzertrennlich«, hatte sie gesagt –, und gehört hatte sie natürlich von ihr. Teitelbaum – und Ruth hörte schon automatisch, wie diesem Namen ein gehauchtes »La« vorangestellt wurde – war einen Meter neunzig groß, plattfüßig, breithüftig, flachbrüstig und etwa dreißig Jahre jünger als Seezers. Sie hatte zwei Sammlungen mit minimalistischen Erzählungen verfasst, die in der hintersten Provinz von Kentucky spielten, obwohl sie in Manhattan geboren und aufgewachsen war, am Barnard College und der Columbia University studiert und anschließend überwiegend in Europa gelebt hatte. Gerüchten zufolge hatten die beiden einander in einem Tanzclub im New Yorker Stadtteil SoHo kennengelernt.
Das Paar zögerte auf der Schwelle, bis Irving Thalamus sich erhob, eine dröhnende Begrüßung ertönen ließ – »Orlando! Mignonette!« – und den Raum durchquerte, um sie in die Arme zu schließen. Die Gespräche setzten wieder ein. Wie in Trance driftete Brie mit entrücktem Gesichtsausdruck auf das Triumvirat der einander umarmenden Löwen zu. In diesem Augenblick ergriff Laura Grobian Ruth am Arm. Brie schien die Bewegung irgendwie zu spüren und erstarrte. Ruth sah Laura an, noch nicht direkt beunruhigt, sondern nur besorgt, sie würde wieder mit ihrer Masada-Geschichte anfangen, während die kostbaren Minuten der Cocktailstunde zerrannen. »Ruth« – Laura fixierte sie mit ihren unergründlichen Augen –, »seh ich dich heute nach dem Abendessen, ja?«
»Ja, sicher«, sagte Ruth, obwohl der Boden unter ihr schon wieder wankte. Sie war Laura Grobians Vertraute, ja, aber was wollte sie jetzt von ihr, um Himmels willen?
Laura lächelte sie an, als wären sie gerade von einer gemeinsamen Weltumseglung zurückgekehrt. »Nach Janes Lesung. Jane Shines. Die
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