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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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Zivilisation zurück, die Pfeiler stürzten ein, das Hotel verschwand ebenso wie der Laden und die Telefonleitung, als wäre alles ein fahrender Zirkus, eine Luftspiegelung gewesen, und innerhalb von zehn Jahren erinnerten nur noch die von Unkraut verschlungenen rostigen Gerippe nutzloser Maschinen daran, dass es einmal einen Ort auf Billy’s Island gegeben hatte.
    1937 tat die Bundesregierung dann das einzig Vernünftige und erklärte den Sumpf zum Naturschutzgebiet; bei dieser Gelegenheit wurden die letzten Hinterwäldler, Wilderer, Alligatorenjäger, Schwarzbrenner und alle sonstigen inzüchtigen Primitivlinge und Desperados, die sich an diesen entlegensten Außenposten der Erde geflüchtet hatten, aufgespürt und vertrieben. Der Okefenokee wurde zum Zufluchtsort für jegliches Getier, das schwamm, flog oder auf dem Bauch umherkroch, nur den menschlichen Sumpfblüten und Gesetzesbrechern bot er keine Zuflucht mehr. Das Wasser stieg, der Wald wurde dichter, Zypergras, Wasserschlauch und Schneeballstrauch gediehen, im Schlamm wälzten und vermehrten sich die Alligatoren, und das Leben von einst, das älteste Leben, das ewige und unbesiegbare Leben triumphierte.
    Natürlich wusste Hiro von alledem nichts. Er wusste nur vom Kofferraum des Mercedes, von Prellungen am Schienbein, von Muskelkrämpfen, schmerzenden Gelenken und Reisekrankheit, und allmählich dämmerte ihm, dass der unsichtbare Fahrer dort vorn, der da etwas von einem »Plastik-Jesus« grölte wie ein Betrunkener in einer karaoke -Bar, offenbar der König aller Butterstinker persönlich war, der ketō , die Langnase, sein schicksalhafter Rivale in der Liebe, Ruths großer, haariger bōy-furendo … und er wusste auch, dass der Augenblick der Befreiung kommen würde.
    Oh, wie er diesen Augenblick herbeisehnte, bei jedem Schaukeln und Schlingern und Rütteln des Wagens, in jeder scharfen Kurve, bei jedem Knirschen der Reifen auf Kies und während der langen, schwülen Nacht vor dem Motel – ja, es war ein Motel, er hörte die an- und abfahrenden Autos, das Zuschlagen der Türen, das Stimmengewirr. Als er im Wagen allein war, versuchte er, sich durch die Wand zwischen Kofferraum und Rücksitz in den Innenraum zu arbeiten, aber es war zu eng, um sich richtig zu bewegen, und die Wand gab nicht nach, eine kalte, von den Deutschen für die Ewigkeit errichtete Barriere. Und so lag er mit schmerzenden Gliedern da, massierte sich mühsam die Muskeln und atmete geduldig und konzentriert die heiße, abgestandene Luft; er wartete wie ein Samurai, wie Jōchō, wie Mishima, wie ein Japaner, auf den Augenblick, in dem sich der Schlüssel im Schloss drehen würde.
    Als der Augenblick kam, war er bereit. Müde, wundgeschürft, gierig nach Licht und Luft, in sich eine tiefe, brennende, unstillbare Wut wegen all seiner Verletzungen und Wunden, weil die Stadt der Brüderlichen Liebe ein krasser Betrug gewesen war und weil er Ruth verloren hatte, aber er war bereit, bereit für alles. Doch als sich schließlich der Schlüssel im Schloss drehte und die Kofferraumklappe über ihm aufging wie ein Sargdeckel, blendete ihn die Explosion des Lichts, und er zögerte. Er schirmte die Augen ab und blinzelte in das Gesicht über ihm, ein bekanntes Gesicht, das Gesicht des bōy-furendo , das ihn jetzt erschreckt und ungläubig anstarrte. Das genügte. Alles weitere ging so automatisch wie der Motor, der sein Herz antrieb, oder der Blutstrom, der durch seine Adern schoss.
    Er sprang hinaus, sein Gegner war völlig überrascht. Er brauchte die Karatekünste nicht einzusetzen, die er sich durch minutiöses Studium der Diagramme in Kampfsportzeitschriften erworben hatte, brauchte nicht zu stoßen, zu treten oder Augen einzudrücken – der bōy-furendo war entsetzt zurückgewichen, seine Augen zwei stumpfe Nuggets, seine Miene ließ auf Impotenz und Verstopfung schließen. Gut. Gut, gut, gut. Hiro erhob sich aus der geduckten Angriffshaltung, blickte um sich und versuchte sich zu orientieren. Und dann, wie ein Schlag ins Gesicht, erlebte er die nächste Überraschung: Soweit das Auge reichte, sah er nichts als Wasser, Morast, Kriech- und Schlingpflanzen, jene verwünschte, faulig stinkende Wildnis von Amerika. Aber nein, das durfte nicht wahr sein. War denn hier alles Sumpf, das ganze hoffnungslose Land? Wo waren die großen Einkaufszentren, die Apartmenthäuser, die Tätowiersalons und die Supermärkte? Wo waren die rotleuchtenden Berge und das weite Land? Warum konnte dieser

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