Der Samurai von Savannah
diesem Augenblick – als er, kaum aus dem Kofferraum des Mercedes befreit, in den Sumpf zurückgestoßen war –, durchfuhr ihn ein Gedanke, der ihn erstarren ließ. Seit achtundvierzig Stunden, seit jenem Moment, da sie ihn mit ihren Gewehren und Hunden und dem kalten, glasharten Blick ihrer Augen aufgestöbert hatten, während seiner Flucht aus der primitiven Zelle und in den betäubenden, drückenden Stunden des Begrabenseins im Kofferraum, umschiffte er nun schon den harten Fels einer Frage, der er sich nicht stellen wollte – Wer hatte ihn verraten? –, und auch die dazugehörige, ebenso schmerzliche zweite Frage: Wer hatte denn gewusst, dass er sich in dem Häuschen im Wald versteckte? Jetzt kam ihm die Antwort, die Antwort auf beide Fragen, verpackt in einer einzigen, dumpfen Silbe: Ruth.
Es lag etwas Besonderes in der Art, wie man das Paddel ins Wasser eintauchte und durchzog, mit einer einzigen, raschen Bewegung des Handgelenks im Heben umdrehte und dann wieder eintauchte, ein Rhythmus und eine Koordination, die Vollkommenheit erahnen ließen, und das gefiel ihm. Es war etwas Ordentliches. Klares. Der Schlag konservierte Energie und gab sie zugleich ab – nicht wie diese Idioten in ihren Motorbooten auf den Touristenrouten –, und es war auch ein gutes Gefühl im Schultergürtel und im Trizeps. Und es war so still – beinahe kam er sich vor wie ein Seminole oder Creek auf der Pirsch nach Alligator und Ibis oder gar nach einem jener Bleichgesichter, die die Indianer in den Tagen von Billy Bowlegs in den Sumpf getrieben hatten.
Jeff Jeffcoat glitt durch einen Traum. Das hatte er sich seit seiner Kindheit in Putnam Valley im Staat New York gewünscht: mit eigener Kraft den größten Sumpf Amerikas zu durchqueren, Gefahren zu meistern, Wunder zu entdecken, Alligatoren beim Sonnen zu beobachten, den Schlangenhalsvogel in seinem Nest, die in den Ästen eines Baums zu einem tödlichen Signal gekrümmte Wassermokassinschlange. Und nun war er hier – achtunddreißig Jahre alt, seit Kurzem in Atlanta ansässig, wo er im Kolorierungslabor von TBS tätig war, seine Frau Julie saß mittschiffs auf einem Kissen, sein Sohn Jeff junior bediente das Paddel am Bug –, hier war er und tat es wirklich. Und es war großartig – hinter jeder Ecke etwas Neues. Es war heiß, sicher, das musste er zugeben, und die Insekten waren schrecklich, trotz der schützenden Lotion, die in den Augen brannte, die Mundwinkel verätzte und einem ständig von der Nasenspitze tropfte, vermischt mit zwei Litern Schweiß. Aber was war schon ein bisschen Unbequemlichkeit verglichen mit der Chance, eine echte Schnappschildkröte in freier Wildbahn zu sehen – fast siebzig Kilo schwer, ein Panzer so groß wie ein Cocktailtisch – oder den legendären schwarzen Puma oder den seltensten aller seltenen Vögel, den Elfenbeinspecht?
»Dad!« Jeff junior sagte es leise und eindringlich, im knappen Flüsterton des Waldläufers; Jeff spürte, wie sich auch Julie schlagartig anspannte, und sein Blick schoss sofort über den Bug hinaus und musterte die Büschel von jungem Schilfrohr und Saverbaum, die vor ihnen lagen. »Dad, halb links vor uns, etwa dreißig Meter.«
»Was?«, wisperte Julie und griff nach dem Feldstecher. Sie trug ein Moskitonetz über dem Gesicht, um die Quälgeister fernzuhalten, Shorts der Firma »Banana Republic« und den Tropenhelm, den Jeff ihr zum Spaß gekauft hatte. Sie war genauso aufgeregt wie er.
Jeff spürte, wie ihn ein Schauder durchfuhr. Das war das wahre Leben, das war Abenteuer, wie es die Forscher in jedem wachen Augenblick ihres Lebens empfunden haben mussten. »Was ist es, Jeffie – was siehst du denn?«
»Irgendein –«
»Pssst, scheuch es nicht auf.«
Ein geflüstertes Flüstern. »Irgendwas Großes. Seht ihr’s nicht, da vorn, wo die Büsche sich bewegen?«
»Wo?«, fragte Julie keuchend, den Feldstecher ans Gesicht gepresst. »Ich sehe nichts.«
Jeff bewegte das Paddel im Wasser, ganz behutsam, und das Kanu schob sich mit dem eigenen Schwung vorwärts. Wahrscheinlich war es ein Alligator – der Sumpf wimmelte ja davon. Am Vortag, ihrem ersten Tag im Sumpf, waren sie fast eine Stunde lang unterwegs gewesen, ehe sie ihren ersten gesichtet hatten – und das war ein recht kümmerliches Exemplar gewesen, knapp über einen halben Meter –, aber trotzdem war es ein magischer Moment gewesen. Eine halbe Stunde lang hatten sie regungslos im Kanu zugebracht und ihn einfach nur beobachtet, wie er so träge
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