Der Samurai von Savannah
55-Meilen-Geschwindigkeitsbegrenzung stur einhielt, während die großen Laster und die japanischen Sportwagen mit derartigem Tempo an ihm vorbeiflitzten, als würde er auf der Fahrbahn parken. Die Nationalparkverwaltung gab ihnen acht Stunden, um von einer Plattform zur nächsten zu gelangen, und das ließ ihnen genügend Zeit, um sich alles anzusehen, aber nach der Begegnung mit den Ottern hatten sie eine leichte Verspätung. Jeff zog das Paddel fest durch.
Es war dreiviertel sechs, und er wurde schon etwas nervös – hatten sie irgendwo eine falsche Abzweigung genommen? –, als Jeffie krähte: »Ich seh sie, ich seh sie, direkt vor uns!« Da war sie, die erhöhte Plattform, auf der sie ihre zweite Nacht im Sumpf verbringen würden. Die verwitterten Stützbalken und das primitive Dach schälten sich aus der wie eine grüne Mauer gefügten Vegetation heraus, ein Graureiher flog mit schallendem Schwingenschlag auf, und sie waren angekommen, auf einem schimmernden Teppich aus Licht glitten sie auf ihren Lagerplatz zu. Genau wie die Plattform, auf der sie die Nacht zuvor verbracht hatten, war auch diese etwa dreißig Quadratmeter groß, mit porösen Bohlen überdacht und erhob sich einen bedenklich knappen Meter über den Wasserspiegel des Sumpfs. Die Ausstattung bestand aus einem Chemieklosett, einem Holzkohlengrill und einem Logbuch, in dem jede Gruppe, die über Nacht blieb, Datum und Uhrzeit von Ankunft und Aufbruch festhalten sollte.
Jeff junior und Julie hielten das Kanu ruhig, während Jeff auf die Plattform kletterte, immer auf der Hut vor Schlangen und Echsen, vor allem, was krabbelte, kroch oder kletterte. Am Abend zuvor hatte Julie einen Schrei ausgestoßen, der vermutlich bis nach Atlanta zu hören gewesen war, als aus einem der Dachsparren plötzlich eine Peitschenschlange hervorgeschossen kam, in den Kartoffelsalat fiel und sich quer über den Boden davonschlängelte, um auf der anderen Seite der Plattform in der Entengrütze zu verschwinden. Diesmal wollte Jeff kein Risiko eingehen. Mit gründlichem Blick überprüfte er die Balken und auch die Unterseite des Gerüsts, und mit einem Stock fuhr er in jede der Ritzen im Dach, wo Balken und Bohlen zusammengefügt waren. Dann wandte er sich dem Logbuch zu. Die letzte Eintragung stammte von den Murdocks aus Chiltonberry/Arkansas; in der Spalte für Bemerkungen hatten sie notiert: »Schnakenhölle.« Vor ihnen waren die Ouzels aus Soft Spoke/Virginia da gewesen, und sie hatten nichts weiter mitzuteilen gehabt als: »Wunderschöne Sterne.« Die Zeile über dem Vermerk der Ouzels fiel ihm sofort in die Augen – jemand, der sich nur als »Fritz« verewigt hatte, und zwar in einer so gedrängten und heimlichtuerischen Handschrift, dass Jeff sie kaum entziffern konnte, hatte dort geschrieben: »Achtung: Alligator über 4,25 m Länge kann Plattform erklettern.« Das »kann« war dreimal unterstrichen.
»Jeff, was machst du da so lange? Ich muss auf die Toilette.«
»Ja, gleich«, erwiderte er geistesabwesend. Dabei überlegte er, ob er das akrobatische Reptil erwähnen sollte, und beschloss, es zu tun, aber erst später, nach dem Abendessen, wenn sie es sich zum Schlafen bequem gemacht hatten. »Alles klar hier«, rief er der Einfachheit halber.
Jeff machte Feuer mit den Briketts aus echtem Eichenholz, die er aus Atlanta mitgebracht hatte, und Julie holte drei herrliche Filetsteaks aus der Kühlbox. Jeff junior bekam eine Cola, und sie teilten sich ein Bier, während die Steaks brutzelten und einen sauberen, scharfen, aromatischen Rauch aufsteigen ließen, der eine Zeit lang den dumpfen Gestank des Schlamms überlagerte und die Moskitos irritierte. Hinter der Plattform war das Wasser seicht – es ging höchstens bis zum Schienbein –, aber direkt davor lag eine recht tiefe Stelle, zweifellos eine große Suhle für Echsen, und Jeff behielt diese Stelle im Auge, um den agilen Alligator rechtzeitig zu erspähen, der sein Steak wohl am liebsten blutig aß, wie Jeff vermutete. Jeff junior holte seine Angelrute hervor, aber Jeff und Julie bestanden beide darauf, dass er zuerst noch auf der Klarinette üben müsse – sie legten Wert auf eine vielseitige Entwicklung ihres Sohnes, und obwohl Jeff junior erst zehn Jahre alt war, hatten sie schon seine Collegezeit im Auge. Und so erhoben sich, während das Essen gar wurde und Jeff seinen Schluck Bier in einer Plastiktasse schwenkte, die klagenden Melodien von Carl August Nielsen über Morast, Grasinsel und Suhle und
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