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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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nicht genau, Ruth, aber mir scheint, es ist das Mindeste, was du tun kannst. Mein Junge musste wegen dieser Geschichte ins Gefängnis.« Sie ließ diesen Satz einwirken, und der Gedanke erstarrte zwischen ihnen, übergroß und hässlich. »Übrigens würde ich es im Lichte dieser ganzen –«, sagte Septima schließlich und suchte nach Worten –, »dieses emotionalen Aufruhrs gut verstehen, wenn du deine Lesung heute Abend lieber verschieben möchtest …«
    Die Lesung verschieben! Ruth sprang vor Freude und Erleichterung über diese Idee fast in die Luft – so käme sie davon, könnte den Kopf aus der Schlinge ziehen! –, aber dann riss sie sich zusammen. Wenn sie nicht las, ganz egal aus welchem Grund, wenn es nicht gerade ein Atomkrieg wäre, würden sie wie die Schakale über sie herfallen. Ruth hat gekniffen , würden sie sagen, es war alles leeres Gerede; hast du schon gehört, was Jane Shine dazu gesagt hat?
    »Bist du sicher, dass es Saxby jetzt gut geht?«
    »Ich kenne Donnager Stratton seit zweiundvierzig Jahren, und er ist persönlich hingefahren, um die Angelegenheit zu klären.« Septima seufzte. »Er ist ein alter Sturschädel, mein Saxby, schon immer gewesen. Hinter diesen kleinen weißen Fischen ist er her, Ruthie, und er wird wieder zurück in den Sumpf gehen, um sie sich zu holen, ob die da nun den Japaner jagen oder nicht. Das hat er mir gesagt.«
    Ruth senkte den Blick. In der Hand hielt sie noch immer den braunen Umschlag. Als sie wieder aufsah, hatte sie ihren Entschluss gefasst. »Nein«, sagte sie, »ich werde lesen.«

DIE MACHT DER MENSCHLICHEN STIMME
    Wenn sie ihn hier wieder herausholten, würde er sich als allererstes diesen kleinen paramilitärischen Schläger mit dem Struwwelbart greifen und ihn so in den Arsch treten, dass er in den nächsten Bundesstaat flog. Und Abercorn auch, diesen Dreckskerl. Der sollte den starken Mann vor irgendwelchen armen, keuchenden Flüchtlingen aus Mexiko spielen, die fast im eigenen Schweiß ersoffen, aber er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass irgend jemand ihn – oder Ruth – herumschubste. Es war unnötig gewesen, total unnötig. Empörend war es, einfach empörend.
    Saxby Lights, Spross eines ehrwürdigen Clans von Tupelo Island, Sohn des seligen Marion und der Septima Hollister Lights und Liebhaber einer unbekannten Literatin aus Südkalifornien, steckte in einer betonierten Zelle des Bezirksgefängnisses von Clinch County in Ciceroville/Georgia, als Gast von Sheriff Bull Tibbets und des INS -Spezialagenten Detlef Abercorn. In der Zelle gab es eine in den Fußboden eingemauerte Toilette aus rostfreiem Stahl und ein mit der Wand verschraubtes Klappbett. Drei der vier Wände waren limonengrün gestrichen und mit ambitionierten Graffitizeichnungen bemalt, die sich vor allem mit dem Herrn Jesus Christus, unserem Erlöser, der Wahrscheinlichkeit Seiner Wiederkehr und dem Geschlechtsakt in verschiedenen Varianten beschäftigten: zwischen Männern und Frauen, Männern und Männern, Männern und kleinen Jungen, Männern und diversen anderen Spezies. Primitive Abbildungen des bärtigen Christus samt Heiligenschein wechselten ab mit Darstellungen von riesigen gedunsenen Phalli, die wie Zeppeline über die Wände schwebten. Die vierte Wand, hinter der ein betonierter Gang lag, war vom Boden bis zur Decke vergittert, wie der Affenkäfig in einem Zoo. Es roch nach Desinfektionsmittel, verschnitten mit Urin.
    Saxby war auf den Beinen – zum Sitzen war er zu wütend. Zwischen den Schüben seiner Wut war er abwechselnd deprimiert und besorgt, hatte Angst um Ruth – und auch um sich selbst. Hatte sie diesem Burschen bei der Flucht geholfen? Ihn in seinem Kofferraum versteckt? Zuzutrauen wäre es ihr ja, vor allem weil sie ihm die ganze Geschichte verheimlicht, ihn angelogen hatte. Natürlich war er beunruhigt. Er hatte kein Gefängnis mehr von innen gesehen seit seiner Collegezeit, als er einmal wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses eine Nacht im Knast von Lake George verbracht hatte. Aber das machte ihn ja nicht zum Gewohnheitsverbrecher. Und auch wenn er zugab, dass die ganze Geschichte mit diesem kleinen Japaner ziemlich verdächtig roch, besonders nach der Rolle, die Ruth in der Sache gespielt hatte, und wenn er auch verstand, dass Abercorn frustriert war, weil er allmählich ziemlich dumm dastand, so entschuldigte das gar nichts. Sie waren solche Idioten. Er war kein Krimineller, merkten sie das nicht? Das Auftauchen des

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