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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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eine Komödie gewesen sein, doch die Nacht war tragisch. Sie legte sich um ihn wie ein Leichentuch, sie war tödlich und gespenstisch. Die Kälte sank herab, überall im Sumpf erklangen Schreie des Protests, und Hiro zitterte in seinem nassen T-Shirt und den nassen Bermudas. Die Insekten fraßen ihn auf, inzwischen schlug er auch nach ihnen, aber er war ein Nadelkissen, eine Blutbank, seine Haut war schon so zu Hügeln und Tälern geschwollen, dass sie sich anfühlte wie ein Brief in Blindenschrift. Spät, sehr spät, als der Mond ein gefrorenes Pünktchen am Himmel war, schlängelte sich ein Reptil von der Dicke seines Fußknöchels heran, um an seiner Körperwärme Anteil zu nehmen. Er spürte, wie es in seine Achsel und zwischen seine Beine glitt, den kahlen Kopf zu seinen Nasenlöchern reckte, um sich in seinem heißen Atem zu wärmen.
    Am Morgen ging es ihm schlechter. Er bibberte in seinem schlammigen Bett, bis die Sonne aufstieg, um ihn zu erlösen, und dann lag er reglos da wie ein Kaltblüter, wie ein ans Ufer gehievter Alligator, und in seinen Adern kochte das Blut. Diesmal trug ihn das Fieber zurück nach Kioto, und er war ein kleiner Junge an der Hand seiner obāsan , mit der er am Freitagabend durch die festliche Menge in der Kawaramachi-Straße spazierte. Es war eine Neonparade, Gerüche nach gyoza, soba , gegrilltem Aal in süßer Soße, und überall Menschen. Seine obāsan nahm ihn zu seinem Großvater mit, um an diesem Abend seinen Geburtstag zu feiern – seinen sechsten. Sie wollten bei Tante Okubo udon und tempura essen und dann in das Café um die Ecke gehen, wo es amerikanische Süßigkeiten gab, Schokolade-Karamell-Shakes und Banana-Split. Seine freie Hand, die linke, ruhte fest im Griff eines neuen Baseballhandschuhs, auf dessen Leder in fließenden amerikanischen Buchstaben der Namenszug des großen Reggie Jackson verewigt war. Auf dem Weg ein Pachinko-Salon: »Obāsan , bitte, lass mich spielen, nur ein einziges Spiel«, und er zerrte sie am Arm, verlor plötzlich das Gleichgewicht und taumelte gegen eine Passantin, eine alte Dame, die nicht westlich gekleidet war wie alle anderen, sondern einen Kimono mit obi trug. Sie sah ihn scharf an. »Sumi-masen« , sagte er und verneigte sich tief, »verzeihen Sie bitte vielmals.« Obāsan baute diese Entschuldigung noch aus, aber die alte Dame durchbohrte ihn mit ihren harten schwarzen Augen. »Gaijin« , zischte sie schließlich und wandte sich zum Gehen, aber Hiro verlor den Kopf, die Beleidigung brannte wie Essig in einer offenen Wunde, und er grapschte nach dem weiten, fließenden Ärmel ihres Gewands. »Amerikajin desu« , sagte er, »ich bin Amerikaner.«
    Aber das war er nicht. Immer noch nicht. Er hatte den Hass in den Augen gesehen. Er erhob sich von dem Schlammhügel, der Schweiß brannte auf seinen Schläfen, und er dachte an die Limonade, die ihm die Jeffcoats dagelassen hatten. Und wo war sie? Zermalmt unter dem stummen, hirnlosen Gewicht dieses Viehs auf der Plattform, dieser Bestie, dieses Dinosauriers, der Amerika war. In diesem Moment sah er sie, die orangefarbene Flüssigkeit, die unter dem Alligatorbauch hervorquoll wie Urin, wie verdünntes blassrosa Blut. Aber es war kein Blut, es war Limonade, und er sehnte sich danach. Der Schweiß brannte ihm in den Augen, das Fieber raste in seiner Kehle: er konnte kaum noch atmen vor Durst. Benommen kam er auf die Beine und sah das Wasser rings um sich, ein Ozean, ein ganzer Planet voll Wasser. Und dann bückte er sich, obwohl er wusste, dass er das nicht tun sollte und dass es alles nur verschlimmern würde, aber er bückte sich und trank, bis es ihm wieder hochkam.
    Irgendwann im Laufe des Nachmittags ballten sich im Westen die Wolken zusammen, wie nackte Knöchel, deren Weiß sich erst grau, dann blaugrau und schließlich schwarz verfärbte. Der Himmel wich zurück, die Sonne schmolz dahin. Ein mäßiger, aber steter Wind kam auf, in dem ein Hauch der Golfküste zu spüren war. Hiro lag auf dem Schlammhügel, alle Gelenke taten ihm weh, und er war mit Blasen übersät und so verbrannt, dass er sich schon fragte, ob man ihn für einen Neger halten würde, und der Schlamm nahm ihn auf, formte sich um die Wölbung seines Kopfes, die wie Löffel gerundeten Schultern und seinen vor Krämpfen taschenmesserartig zuckenden Unterleib, das eingefallene Hinterteil und die dünnen Schenkel. Regen zog auf, und eine weitere Nacht voller Kälte und Feuchtigkeit stand bevor, mit Schüttelfrost und Fieber

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