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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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die kreischten, rannten, weinten, übereinanderpurzelten wie ein aufgestörter Ameisenhaufen. Er wich einer fetten alten Frau mit einem Gesicht wie eine Nō-Maske aus und machte einen hastigen Bogen um zwei aufgeschreckte Jungen in schmutzigen Shorts, und dann setzte er durch einen staubigen Hof, wo er Hühner und Hunde und schreiende braune Babys in weißen Plastikwindeln aufschreckte. Im Rennen blickte er über die Schulter und sah die lodernde Hütte in der Ferne über einem Meer aus schwarzen Gesichtern und wogenden Gliedern. Es war eine Szene, die ihm den Atem verschlug, eine Szene des Entsetzens und der Verworfenheit, dunkle Gesichter und spitze weiße Zähne, die Kannibalen aus den Bilderbüchern seiner Kindheit tanzten dort um ihr grausiges Kochfeuer. Hiro rannte los, Hunger war nicht schlimmer als das, rannte in die länger werdenden Schatten hinein, durch Schlamm und Pfützen und die seltsame tropische Vegetation, er rannte, bis irgendwann endlich die Rufe und Flüche und das Hundegebell von ihm abfielen wie eine sich ablösende Haut.
    Den ganzen nächsten Tag hindurch kauerte er im Gebüsch, kaute Wurzeln, Blätter und hie und da eine Handvoll saurer Beeren, während ringsherum Stimmen gellten und winselnde Hunde an ihren Leinen hechelten. Tückisch, rachgierig, wutentbrannt waren seine Jäger, diese schwarzen Männer des Busches, sie wollten ihn aufscheuchen, die Rechnung begleichen und ihn so lynchen, wie sie früher von den hakujin gelyncht worden waren. Bei Tagesanbruch kam ein wild aussehender Neger mit roten Flecken im Weiß seiner Augen auf fünf Schritt an das Dickicht aus Stech- und Palmettopalmen heran, in dem er bebend versteckt lag. Der Mann hatte ein Gewehr, und er war so nah, dass ihm Hiro mit ausgestreckter Hand die Schnürsenkel hätte aufmachen können. Er stand Todesängste aus. Ihm war elend. Er hatte Hunger. Der Tag verrann in die Nacht, und er stolperte durchs dunkle Unterholz, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Verandalichter und die bellenden Hunde zu legen.
    In Wahrheit wusste er weder, wo er war, noch, wohin er wollte. Er wusste nur noch, dass er am Verhungern war und dass die Behörden der gaijin ihm bald auf den Fersen sein würden, und wenn sie ihn fingen, dann käme er ins Gefängnis und würde in Schande heimgeschickt. Ziellos wanderte er umher, seine geschundenden Füße bluteten, Moskitos und Zecken, Sandflöhe und Bremsen saugten ihm das Blut aus dem Leib, giftige Reptilien belauerten ihn. Er war ein urbanes Wesen, ein Städter, aufgewachsen bei seiner Großmutter in einer der unzähligen, engen Wohnungen von Yokohama. Er kannte auch die japanischen Wälder und Berge nicht, und noch viel weniger wusste er von der Wildnis Amerikas. Er wusste nur, dass sie gewaltig groß und ungebändigt war und dass es dort von Bären, Löwen, Wölfen und Krokodilen wimmelte. Dicht neben seinem Kopf schwirrten unsichtbare Flügel durch die Dunkelheit. Schrille Stimmen kreischten in der Leere der Nacht. Irgendetwas schrie im Sumpf.
    Am dritten Tag – oder war es der vierte? Er hatte sein Zeitgefühl verloren – kam er in einer Wolke von Moskitos aus dem Wald gestolpert, das viel zu enge Hemd und die Hose zerfetzt und ganz steif von getrocknetem Schlamm, und fand sich auf einer geteerten Straße wieder. Es war ein Wunder. Asphalt. Schon der Geruch munterte ihn auf. Wenn er der Straße nachging, so folgerte er, würde sie ihn in die Zivilisation führen, zu einem netten kleinen Farmhaus, wo er es riskieren könnte, sich zu zeigen und für ein paar Gelegenheitsarbeiten um Nahrung zu betteln, vielleicht in der Scheune schlafen durfte wie in den alten Schwarz-Weiß-Filmen mit klapprigen Automobilen und freundlich lächelnden, alten, langnasigen Damen in Häubchen und Kleidern, die bis zum Boden reichten. Oder er stieß gar auf eine Imbissstube oder einen McDonald’s wie den in Tokio – er dachte an die kleinen grünen Geldscheine zwischen den Seiten von Jōchōs Buch, das jetzt ganz unten in der tiefsten Tasche der Latzhose des Negers lag –, und dort könnte er sich etwas zu essen kaufen, einen Big Mac mit Pommes frites, Chicken McNuggets und einen Milkshake. Aber er durfte nicht einfach die Straße entlangschlendern, als wäre er zum Schuhekaufen auf der Ginza. Sie würden ihn sofort hoppnehmen, die Neger, die Polizei, und wie sollte er je erklären, was in dieser Baracke passiert war, was der Duft von Austern in einem verzweifelten Menschen auslösen konnte?
    Die Sonne

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