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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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Essen vom Haken und verzehrte es gierig, hungrig, ohne einen Gedanken an Hiro. Sie hatte ihn nun eine Woche lang nicht mehr gesehen, und es gab keinerlei Hinweis, dass er wieder da gewesen war. Das Obst und der Käse für ihn verfaulten langsam, die Dosen waren unberührt, die Kekse weich und feucht. Und es nagte an ihr, dass er sie im Stich gelassen hatte. Er war eine lebendige Story, ein zum Leben erwachter Roman – sie hatte ihn sich vorgestellt, und er war aus heiterem Himmel aufgetaucht –, und sie brauchte ihn. War ihm das nicht klar?
    Natürlich machte sie sich auch Sorgen um ihn – das nagte ja so an ihr. War er ertrunken, steckte er im Sumpf fest oder hatten ihn diese aufgestachelten Spießer von Waschbärjägern, die auf der Veranda des Kriegsveteranenclubs herumlungerten, auf einen Baum gehetzt und mit ihren Schrotbüchsen unter Beschuss genommen? Aber nein, wenn er gestellt worden wäre, hätte sie davon gehört, noch ehe die Flinten ausgekühlt wären, Geheimnisse gab es keine auf Tupelo Island. Vielleicht hatte er sich ganz abgesetzt – war zum Festland hinübergeschwommen oder hatte sich als blinder Passagier auf der Fähre versteckt. Oder – und dieser Gedanke bedrückte sie – vielleicht hatte er sich an jemand anders herangemacht, an irgendeine altruistische Seele, die ihm in diesem Augenblick eine Schale mit gedämpftem Reis hinstellte, dazu kleingehacktes Gemüse mit einem Schuss Kikkoman-Sojasoße und einer Handvoll knusprig gebratener Nudeln. Sicher, das war’s: Er hatte anderswo einen Wohltäter gefunden. Reichhaltigeres Essen. Besseres Arrangement. Irgendeine alte Witwe mit blauen Äderchen auf der Nase, die ihn mit zitternden Händen hätschelte wie einen streunenden Kater. Ja, genau das war’s. Einen Moment lang ließ sie der Einfall erstarren: Er war ja wirklich ein Streuner, ein Söldner, und ihm war es doch herzlich egal, wie viel Risiken sie eingegangen war, um ihm frische Kleidung zu bringen, oder unter welchen Opfern sie ständig auf ihr Mittagessen verzichtet hatte. Plötzlich sah sie ihn in einem neuen Licht: Er hatte sie nur benutzt und beabsichtigte nicht, zu ihr zurückzukehren. Sie hatte sich etwas vorgemacht – zwischen ihnen gab es keine interkulturelle Anziehung, keine Kommunikation, keine Verführung. Zum Teufel mit ihm, dachte sie und stürzte sich auf ihr Lunchpaket, als hätte sie eine Woche lang nichts gegessen.
    Später, als ihr der Kopf schwirrte und sie es nicht länger aushielt, als sie der Meinung war, nun hätte sie Jane Shine eine Ewigkeit Zeit gegeben, anzukommen und ihr aus dem Weg zu gehen, stand sie mit einem Ruck vom Schreibtisch auf, warf einen bitteren Blick durch den Raum – schwarz gewordene Bananen, fleckige Birnen, verstaubte Dosen mit Sardinen, Sardellen und Thunfisch – und schlurfte zur Tür hinaus. Sie hatte vor, auf die Cocktailstunde zu verzichten und sich von Saxby zum Abendessen aufs Festland ausführen zu lassen, womit sie das Unvermeidliche hinausschieben würde – sie konnte dieser Heuchlerin Jane Shine einfach nicht gegenübertreten, nicht jetzt, nicht heute. Doch als sie beim Großen Haus ankam und dort die Treppe hinaufschleichen wollte, schoss Irving Thalamus aus dem Salon heraus, einen Drink in der Hand, und ergriff ihren Ellenbogen. Er zog sie schwungvoll in seine Arme, tupfte ihr einen raschen Kuss auf die Lippen, und dann strahlte er sie an, leicht angetrunken, während sie angestrengt über seine Schulter spähte und im Cocktailzimmer Ausschau hielt nach jener Sprungschanzennase, nach dem dunkel schillernden Haarschopf einer Flamencotänzerin, den extraterrestrischen Augen und dem strengen Dekolleté, nach dem ätherischen Monster Jane Shine.
    Irving Thalamus drückte sie ab, grinste glasig und hauchte ihr Wodkadämpfe ins Gesicht. »Hallo«, sagte er, und sein Grinsen verflog für einen Moment. »Nix Jane. Sie ist überhaupt nicht aufgetaucht.«
    Ruth spürte neue Hoffnung in sich aufwallen. Im Geiste sah sie die Wrackteile des Flugzeugs, auf einem felsigen Berghang verstreut, zermalmte Trümmer von rauchendem Metall, an totem Fleisch zerrende Krähen, das Auto, zusammengequetscht wie ein Akkordeon, den aus den Gleisen gesprungenen Eisenbahnzug. Tut mir leid, Ruthie, wirklich leid , hatte Septima zu ihr gesagt, aber wenn die Jurorenkommission ihre Entscheidung erst einmal getroffen hat, kann ich mir nicht anmaßen, da einzugreifen. Wenn die Juroren Miss Shine für qualifiziert halten – und ich muss sagen, dass ihr Ruf

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