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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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– na gut, schön für sie. Es war kein Wettbewerb. Wirklich nicht. Für jeden gab es einen Platz.
    Nach dem Wein und nach ihrer Erleuchtung an Bord der Fähre fühlte sich Ruth beinahe wie eine Heilige – wie Fellinis Julia, Dantes Beatrice, ja wie Mutter Teresa persönlich –, als sie die Treppe zum Billardzimmer hinaufging, Arm in Arm mit Saxby. Die üblichen Leute waren anwesend. Rauch hing in der Luft. Billardkugeln klickten. Als sie sich durch die Tür schoben, erklang Gelächter von allen Seiten, erstarb zu einem Luftholen, und dann streifte Ruth Saxbys Arm ab und durchquerte den Raum in Richtung des Spieltisches. Alle Blicke lagen auf ihr. Sie wirkte zurückhaltend, das wusste sie, sie wirkte scheu und lieb und sanftmütig. »Ruthie«, sagte Irving Thalamus und sah von seinem Blatt auf.
    Dieses »Ruthie« hätte sie warnen sollen – es lag keine Freude darin, keine Dynamik, es war lediglich eine Ankündigung, ausgedünnt wie mit einem Messer –, aber Ruth hörte nicht hin. Sie bewegte sich, durchquerte das Zimmer, die Mundwinkel zu einem breiten Stewardesslächeln verzogen, und ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Jane Shine gerichtet. Vage nahm sie Sandy war, irgendwo zu ihrer Rechten, und Bob den Dichter, aber die Einzige, die sie deutlich sah, war Jane, die rechts von Thalamus saß, auf dem Platz, der sonst Ruth vorbehalten war.
    Niemand sprach ein Wort. Ruth setzte einen Fuß vor den anderen, ihre Schenkel streiften sanft gegen das neue, hautenge rote Kleid, das sie für das festliche Essen angezogen hatte, aber sie schien nicht voranzukommen, der Fußboden war wie ein Hamsterrad, und sie befand sich mitten in einem Traum, der zum Albtraum wurde. Und plötzlich, zu plötzlich, stand sie vor dem Spieltisch, und Jane Shine blickte zu ihr auf. Jane war weiß gekleidet, in ein hochgeschlossenes Leinenkleid mit tausend perfekten Bügelfalten, obwohl es im Zimmer so heiß war wie auf der Teufelsinsel. Ihr andalusisches Haar glitzerte schwärzlich und ringelte sich in dicken wogenden Locken um ihr Gesicht, und ihre Augen – eiskalte violette Augen – waren zu Nadelstichgröße geschrumpft.
    »Jane«, sagte Ruth mit einer Stimme, die in ihren eigenen Ohren merkwürdig klang, als versuche sie unter Wasser zu schreien, als hörte sie sich auf einem Tonbandgerät, das mit der falschen Geschwindigkeit lief, »willkommen auf Thanatopsis.«
    Jane rührte sich nicht, antwortete nicht, sondern ließ Ruth einfach hängen, während sich in die Stille das Schwirren der Insekten aus der Leere jenseits der Fenster mischte. »Verzeihen Sie bitte«, sagte sie schließlich, »aber kennen wir uns?«
    Am nächsten Morgen hatte Ruth mit Frühstück nichts im Sinn – verdauen hätte sie es ohnehin nicht können. Noch vor Owen stand sie auf, noch ehe die Vögel auf den Bäumen erwachten und die Nacht dem ersten dünnen Grauschleier der Dämmerung wich. Sie hatte sowieso kaum geschlafen. In dem engen, überladenen Zimmer hatte sie auf ihrem schmalen Bett gelegen, innerlich vor Wut kochend, und in ihrem Kopf hatte es wie eine außer Kontrolle geratene Maschine gehämmert: Mein Gott, wie sie dieses Weib hasste! Saxby hatte versucht, sie zu trösten, aber sie hatte sich von ihm nicht einmal anfassen lassen – es war pervers, das wusste sie, aber sie musste in ihrem eigenen Zimmer übernachten, Wand an Wand mit ihr, musste ihren Schmerz verdauen, die Verletzungen
    wirken lassen, um sie zu läutern und in etwas Brauchbares zu verwandeln.
    Der Weg zu ihrem Studio, bei Tag so vertraut, war ein dunkles Nichts, schwärzer noch als die Bäume, schwärzer als das Dickicht, das zu beiden Seiten neben ihr aufragte. Sie hatte keine Taschenlampe, und was ihr durch den Kopf fuhr, waren lauter Namen von Reptilien: Gopherschlange, Schwarznatter, Waldklapperschlange. Auf der Fahrt von Los Angeles hatte Saxby ihr lauter spannende Geschichten erzählt: von nichtsahnenden Sandalentouristen, von Spekulanten und Immobilienmaklern, die in Lippe, Augenlid oder Ohrläppchen gebissen worden waren, von Mokassinschlangen, so dick wie Feuerwehrschläuche, die von den Bäumen fielen. Diese Geschichten, jede kleinste, grässliche Einzelheit, kamen ihr nun wieder in den Sinn, doch sie zögerte keine Sekunde. Sie tastete sich auf dem unsichtbaren Pfad entlang, horchte, schnüffelte und schmeckte, all ihre Sinne waren hellwach. Die Gefahr, die ungewöhnliche Stunde, die schwer lastende Atmosphäre rings herum ließen sie auf einmal wieder ganz lebendig

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