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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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werden.
    Als sie um die letzte Biegung der S-Kurve vor ihrem Studio kam, war es am Osthimmel halbwegs hell, und Jane Shine entschwand allmählich aus ihrem Bewusstsein. Es war vollkommen still, die Luft war mild. Die ersten Lichtstrahlen auf den Fensterscheiben reflektierten die phantasmagorischen Konturen der Bäume hinter ihr. Ein roter Kardinal flog über die Lichtung. Als sie auf die Veranda trat, dachte sie an ihre Erzählung, ihre Novelle, an die Frau in der Santa Monica Bay, an Hiro, der verfolgt wurde und litt, und daran, dass all das auch ihre Geschichte war. Genau: Der Ehemann dieser Frau, das war es. Er hatte sie verlassen, alle suchten nach ihm, sogar die Polizei, und er war davongelaufen, in den –
    Sie blieb wie angewurzelt stehen. Das Essen war weg – die schwarzen Bananen und fleckigen Birnen, die Fischdosen, die muffigen Kekse und alles andere –, und auf dem Tisch sah es chaotisch aus, und da war jemand, eine Gestalt, ja, da lag jemand auf dem Sofa. Eine große Freude durchzuckte sie – Jemand hat von meinem Tellerchen gegessen , dachte sie, jemand hat in meinem Bettchen geschlafen –, und sie schob sich ganz leise durch die Tür, drückte den Rücken gegen die Wand – stand ganz einfach still –, bis die Gestalt auf dem Sofa zu Hiro Tanaka wurde. Aber etwas an ihm war anders. Es dauerte einen Augenblick, bis es ihr auffiel: Er war sauber. Keine fleischfarbenen Heftpflasterstreifen, keine Kratzer und Pusteln und Insektenstiche. Und die Sohlen seiner übereinandergeschlagenen Füße waren ebenfalls sauber – und ohne Verletzungen. Er trug immer noch Irving Thalamus’ Bermudashorts, die auf seinem Hintern in allen ungeordneten Farben des tropischen Spektrums prangten, aber er hatte ein neues Hemd an, ein graues Allerwelts-Sweatshirt mit einer Art Wappen auf der Brust. Sie legte den Kopf schief, um die Aufschrift lesen zu können: GEORGIA BULLDOGS . Und dann bemerkte sie die Schuhe – nicht Thalamus’ ausgetretene Latschen voller Risse und Löcher, sondern ein Paar brandneue Nike-Basketballschuhe. Ruth grinste. Tatsächlich: ein streunender Kater.
    Sie wollte ihn nicht aufwecken, stellte sich seinen entsetzten Blick, die vor Schreck herunterklappende Kinnlade vor, wie er zum Fenster hinaussetzte wie ein ertapptes Kind, aber sie konnte ja schlecht den ganzen Tag so dastehen, außerdem brauchte sie einen Kaffee. Nach einer Weile – fünf Minuten, zehn? – ging sie auf Zehenspitzen durchs Zimmer, füllte den Kessel und stellte ihn auf die Kochplatte. Dann fing sie an aufzuräumen, wischte die Krümel vom Tisch in die hohle Hand, warf die leeren Dosen in eine alte Plastiktüte, die sie hinter den Schreibtisch gestopft hatte, und goss Wasser in die steifen rosa Trichter ihrer Kannenpflanzen. Der Deckel des Kessels fing gerade an zu klappern, als sie sich umdrehte und sah, dass Hiro die Augen geöffnet hatte. Reglos lag er da, gekrümmt wie eine verlorene Seele auf einer Parkbank, aber seine Augen waren offen, und er beobachtete sie. »Guten Morgen«, sagte sie. »Willkomen daheim.«
    Er setzte sich auf und murmelte einen Gruß. Er wirkte groggy. Mit spitzen Fingerknöcheln bohrte er sich in die Augen. Dann gähnte er.
    Ruth löffelte frischen Pulverkaffee in eine Tasse mit heißem Wasser. »Kaffee?«, fragte sie und hielt sie ihm hin.
    Er nahm sie mit einer vollendeten tiefen Verbeugung entgegen und schlürfte sie dankbar, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Er wartete, bis sie sich selbst eine Tasse eingegossen hatte, dann erhob er sich und stand etwas verlegen vor ihr. »Ich Ihnen so sehr danken möchte«, sagte er und stockte dann.
    Ruth hielt die dampfende Tasse mit beiden Händen und blickte in seine seltsamen braunen Augen. »Aber klar doch«, sagte sie, und erst als sie seinen verdutzten Ausdruck bemerkte, gab sie die Lehrbuch-Antwort, wobei sie jedes Wort einzeln betonte, als bräuchte sie Zeit, um es zu zerkauen und hinunterzuschlucken: »Bitte sehr, gern geschehen.«
    Darauf schien er fröhlicher zu werden. Er streckte die Hand aus und grinste breit. Seine Vorderzähne standen schief, überlagerten einander, und das wirkte ein bisschen, nun ja, unbedarft. War es etwa das erste Mal, dass sie ihn lächeln sah? Sie wusste es nicht mehr. Aber sie grinste ebenfalls, und sie konnte nicht begreifen, was der ganze Wirbel sollte – Abercorn, Turco, Sheriff Peagler und all die anderen schrägen Vögel auf der Insel lagen völlig schief. Er war harmlos, vielleicht sogar ein wenig

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