Der Samurai von Savannah
müssen –«
Mit einer wütenden Handbewegung knallte das Mädchen die hölzerne Schale vor Hiro auf den Tisch, und er fragte sich, ob es nicht schon viel zu spät sei, ob sie ihn nicht längst erkannt und die Polizei gerufen habe, ob er nicht schon in diesem Augenblick umzingelt werde, aber dieser Gedanke durchzuckte ihn nur kurz, dann verflog er wieder, denn seine ganze Aufmerksamkeit wurde von der Schale in Anspruch genommen. Fleisch? Reis? Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen: Die Schale war mit grünem Salat gefüllt.
Mit der Zeit jedoch wurde seine Geduld, seine triefäugige, kopfnickende Ausdauer eines Zwangsrekrutierten, mit Süßkartoffeln belohnt, mit mehreren Portionen eines blassgrünen Gemüses, das zur Unkenntlichkeit verkocht war, und mit Fleisch – frischem, saftigem Fleisch, Rippchen und so. Es war seine erste warme Mahlzeit seit dem Streit mit Chiba an Bord der Tokachi-maru , und er stürzte sich darauf wie ein Almosenempfänger, was er ja war. Das Mädchen hatte das Essen in schweren, großen Keramikschüsseln auf den Tisch gestellt, und seine Gastgeberin, die ihren Monolog immer nur kurz unterbrach, um vogelhäppchenweise kleine Bissen von dem Fleisch oder dem zerdrückten Gemüse zu nehmen, drängte ihn wie eine besorgte Mutter (»Ach, Seiji, Sie müssen sich unbedingt noch etwas Okra nehmen. Barton und ich könnten das alles ja weiß Gott nicht – und auch von dem Schweinefleisch, bitte, bitte –«). Wieder und wieder nahm er sich nach, kratzte die Servierschüsseln bis auf den Boden leer und saugte methodisch an den abgenagten Knochen, die sich auf seinem Teller häuften, während die alte Dame weiterplapperte, über Kimonos, Kirschblüten, öffentliche Bäder und die behaarten Ainu-Ureinwohner. Als das verdrießliche Hausmädchen Kaffee und Pfirsichtorte auftrug, war er wie benommen.
Ihm war inzwischen egal, was mit ihm passierte, wo er sich befand oder was die Polizei mit ihm machen würde, wenn sie ihn in die Fänge bekäme – nur eins war wichtig: hier zu sein, in einem Haus mit Teppichen auf dem Boden und Bildern an den Wänden, hier zu sein inmitten all dieser wunderbaren Unermesslichkeit, all dieses Wohnraums – das war das Paradies, das war Amerika. In Trance folgte er seiner Gastgeberin aus dem Esszimmer in die Bibliothek, und während das Mädchen abräumte, nippten sie einen süßen, wie Feuer brennenden Likör und gossen sich Kaffee aus einer schimmernden Silberkaraffe ein, die bodenlos zu sein schien.
Irgendwann musste er ein Gähnen unterdrücken, und dabei fiel sein Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war nach ein Uhr nachts. Das Mädchen hatte schon vor langer Zeit den Invaliden im Obergeschoss versorgt, sich von ihrer Dienstherrin verabschiedet und war nach Hause gefahren – nach Hause aufs Festland, wie Ambly Wooster ihm, weitausholend und langwierig, anvertraute. Er hatte eigentlich keinerlei Probleme mit dem Akzent der alten Dame – ihre Aussprache war deutlich und präzise, kein Vergleich mit dem barbarischen Blöken der Frau in dem Coca-Cola-Laden –, aber dieser Begriff, Festrand , war ihm neu. Etwa eine Stunde oder länger hatte er sich einfach nur im Sessel zurückgelehnt, sich innerlich vom Likör massieren lassen und nicht mehr als ein paar Bruchstücke von dem pausenlosen Geplapper der alten Dame mitbekommen, ja hätte er nicht jene angeborene Höflichkeit besessen, diese Samurai-Disziplin, diesen Zwang, den anderen unter keinen Umständen zu kränken, wäre er vermutlich längst eingenickt. Jetzt aber, ganz plötzlich, schnellte der Begriff dieses Festrands in seinem Denken hoch wie ein von lastendem Schnee befreiter junger Ast, und er unterbrach sie mitten in einer Eloge auf das Kabuki-Theater. »Festrand?«, fragte er. »Was ist das, danke sehr?«
Ambly Wooster sah verwirrt aus, als sei sie gerade aus einem Traum hochgefahren. Hiro sah jetzt, wie alt sie war, älter als seine obāsan , älter als der Vogel, der die tausend Jahre alten Eier legt, älter als irgendetwas. »Na ja, das Festland«, sagte sie, »die Küste von Georgia. Wir sind doch hier auf einer Insel. Auf Tupelo Island.« Sie verstummte kurz und musterte ihn blinzelnd mit ihren wässrigen alten Augen. »Wie sagten Sie doch gleich, war Ihr Name?«
Eine Insel. Alle Wärme wich aus ihm wie Luft aus einem Ballon. Also saß er in einer Falle, und die Straße führte nirgendwohin. Er räusperte sich. »Seiji«, antwortete er.
Die alte Dame musterte ihn lange, war zum ersten Mal
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