Der Samurai von Savannah
seit sechs Stunden still. »Seiji«, wiederholte sie schließlich und bedachte ihn mit einem kalten Blick, als hätte sie ihn noch nie im Leben gesehen, und fragte sich, wie er eigentlich dazu kam, in ihr Haus einzudringen, in ihr Esszimmer, in das Allerheiligste ihrer Bibliothek.
Gab es eine Brücke?, fragte er sich. Oder eine Fähre? Konnte er hinüberschwimmen? Er hielt ihrem Blick stand, tat sein Bestes, um demütig, dankbar und bedürftig zu wirken, wobei er eigentlich fest überzeugt war, sie würde ihn gleich hinauswerfen, die Polizei rufen, ihn fesseln und knebeln und in jene dunkle, stinkende gaijin -Zelle stecken lassen, die sein Schicksal war. Dann aber beschlich ihn ein böser Gedanke: Was konnte sie denn schon tun, eine alte Frau, ganz allein mit ihrem invaliden Gatten im Haus, in der tiefen, pulsierenden Stille der Nacht?
»Sie brauchen noch ein Handtuch«, sagte sie plötzlich mit ungetrübter Miene und stand aus dem Sessel auf. Ihre blaugeäderten Hände hingen schlaff herab. Und dann lächelte sie. »Wie unhöflich von mir – da halte ich Sie bis tief in die Nacht wach und schnattere vor mich hin wie ein alter Papagei –, was müssen Sie nur von mir denken, Sie Ärmster!« Dann wandte sie sich um und ging auf die Tür zu. »Also, kommen Sie«, sagte sie, auf der Schwelle wartend, »ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer.«
Er folgte ihr durch das spärlich beleuchtete Haus die Treppe hinauf und einen langen, mit Teppichen ausgelegten Korridor entlang, in dem sie auf halber Höhe kurz über die Schulter zurücksah und einen Finger auf die Lippen legte. »Pssst.« Sie deutete auf eine geschlossene Tür und flüsterte: »Barton.« Er nickte und nahm undeutlich den Geruch von Medizin und das leise Pfeifen und Rasseln angestrengter Atemzüge wahr, und dann bewegten sie sich geräuschlos weiter, die schmalen Schulterblätter der alten Frau hoben und senkten sich unter dem dünnen Stoff ihrer Bluse. »Hier«, sagte sie, stieß eine lackierte Tür am Ende des Korridors auf und trat beiseite, um ihn einzulassen.
Zuerst dachte er, sie nehme ihn auf den Arm – das konnte nicht das Zimmer sein: Es war riesig, geräumig wie ein Schlafsaal, groß genug für Squash, Gymnastik oder einen Swimmingpool. Und trotz ihres ganzen Geredes über Futons war es beherrscht von einem gewaltigen Himmelbett, das über dem Teppich zu schweben schien wie ein Schiff unter vollen Segeln. Außerdem gab es eine dick gepolsterte Couch und einen Lehnsessel. Dahinter konnte er ein Badezimmer sehen, Fernseher, Klimaanlage und Fenster mit Blick aufs Meer. Zwei Leselampen zu beiden Seiten des Betts badeten den Raum in sattem goldenem Licht. Er zögerte, aber sie nahm seinen Arm und führte ihn hinein. »Schlafen Sie gut«, sagte sie und reichte ihm dabei ein Handtuch. »Und wenn Sie noch irgend etwas brauchen, geben Sie mir nur Bescheid. Gute Nacht also.« Und dann fiel die Tür klickend ins Schloss.
Er fühlte sich trunken. Wie berauscht. So begeistert über sich selbst, dass er laut auflachte. Das Bett – es war erstaunlich, märchenhaft, groß genug, um die ganze Besatzung der Tokachi-maru samt Kapitän Nishizawa aufzunehmen. Er hechtete hinein, warf die Beine in die Luft und hüpfte auf den Sprungfedern herum, wobei er kicherte wie ein kleines Kind auf einem Trampolin. Im nächsten Augenblick war er in dem funkelnden Badezimmer – das allein so groß war wie die ganze Wohnung, die er mit seiner obāsan geteilt hatte – und durchstöberte die Schubladen: Seife, Shampoo, Eau-de-Cologne, ein Rasierapparat und Aftershave. Es war zu viel. Er musste träumen. Und dann fiel sein Blick auf sein Spiegelbild, und aller Frohsinn wich schlagartig aus ihm.
Er schnappte nach Luft. Dann sah er noch einmal hin.
Nein, das konnte nicht sein. Das war nicht Hiro Tanaka, der ihn da anstarrte – nicht dieser zerlumpte Landstreicher, dieser Verwahrloste mit filzigem Haar und eingefallenen Wangen, mit Fingernägeln wie ein Totengräber, an dem ein Flickenteppich aus schmuddeligen Bandagen herunterhing wie abgestreifte Schlangenhäute. Er war zwanzig Jahre alt, sah aber aus wie sechzig – das hatte ihm Amerika angetan. Mit einem Mal bekam er Angst. Er sah seine eigene Zukunft vor sich, in einer monotonen, öden Abfolge von Wochen, Monaten, Jahren, in denen er davonlief, sich versteckte, bettelte und wie ein burakumin – ein Unberührbarer – auf den anonymen Straßen einer fremden Welt lebte, ohne jede Hoffnung, je eine Arbeit zu finden, zu tief
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