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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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den Fuß auf die Verandastufen setzte. Auf halbem Wege fiel ihr die Lösung ein: Sie würde etwas singen, laut vor sich hin trällern, und wenn sie jemand hörte, sollte er eben denken, sie sei betrunken oder beschwingt oder durchgedreht. Also drückte sie sich die Zeitung und die Thermobehälter an die Brust, schlenderte über die Lichtung und schmetterte in einem hohen, reinen Gesangsverein-Sopran das erstbeste Lied heraus, das ihr in den Sinn kam: »Oh, where have you been, Billy Boy, Billy Boy? / Oh, where have you been, charming Billy? / I have been to seek a wife, / She’s the –«
    Sie stockte mitten in der Zeile – Hiros Kopf war im Fenster emporgeschnellt wie ein Stehaufmännchen. Seine Miene war eine Maske reinsten Entsetzens, das Gesicht eines Mannes, der von einem Bombengeschwader geweckt wird, von Leuchtspurgeschossen, dem pilzförmigen Schreckensding selbst. Dann aber fing sie seinen Blick auf und sah, dass er sie erkannte, und es war alles wieder gut.
    »Ich habe Essen mitgebracht«, sagte sie beim Betreten des Studios und hoffte, dieses Wort werde ihn beschwichtigen, »und das hier.« Sie stellte die schimmernden Behälter ab und hielt die Zeitung hoch.
    Benebelt starrte Hiro auf die Titelseite, die sie jetzt straff wie ein Laken vor ihm aufgespannt hielt. Sie sah, wie sich sein Blick auf die Schlagzeile heftete.
    »Kannst du Englisch lesen?«, fragte sie.
    Das konnte er. Natürlich konnte er das. Und er war stolz darauf. Die Amerikaner mit ihren großen Füßen und ihrer herablassenden Großkotzigkeit gegenüber der restlichen Welt konnten keine andere Sprache als die eigene. Aber die Japaner, das gebildetste Volk der Erde, lernten in der Schule Englisch, und zwar schon in der Grundschule. Da es aber nur wenige englische Muttersprachler in Japan gab und das japanische System vor allem in Pauken und Auswendiglernen bestand, war das passive Verständnis des durchschnittlichen Japaners weit höher entwickelt als der aktive Sprachgebrauch.
    Hiro blickte von der Zeitung auf. »In Schule wir lernen«, erwiderte er schlicht.
    Ruth faltete das Blatt und gab es ihm. Er senkte den Kopf und warf ihr einen zerknirschten Blick zu. »Jetzt sind sie wirklich hinter dir her«, sagte sie. »Was hast du bloß da unten angestellt?«
    Er zuckte die Achseln. »Nichts, Rusu. Gut essen. Zuhören, wie alte Dame redet, redet, redet. Sie nie hat Mund gehalten.«
    Er probierte es mit einem Lächeln, dem Lächeln des Schuljungen, der bei einem Streich erwischt worden ist. An dem Vorfall in Tupelo Shores war mehr dran, als er erzählte – da war sie sich sicher. »Apropos essen«, sagte sie, »ich hoffe, du magst Fisch.«
    Während des Essens – sie saßen zusammen an ihrem Arbeitstisch, nachdem sie die Schreibmaschine und den wüsten Stapel von bekritzelten Seiten, die demnächst zu ihrer ersten Novelle gerinnen sollten, beiseitegeschoben hatte – beichtete er ihr die ganze Geschichte. Er erzählte ihr von Ambly Woosters Verwirrtheit und davon, wie sie ihn gedrängt habe, über Nacht zu bleiben, er erzählte ihr, wie schön es gewesen sei, eine Dusche, saubere Bettwäsche und drei Mahlzeiten pro Tag zu haben, und von dem Schrecken und Entsetzen, den Olmstead Whites unmotivierte Attacke in ihm ausgelöst habe. »Ohne Warnung, Rusu, gar nichts – und er hat Schwert dabei, ein Kendō-Schwert, ich glaube. Er will mir wehtun, Rusu, mein Blut will er sehen.«
    Olmstead White war tot, und Ruth fragte sich, was für rechtliche Konsequenzen dies wohl hatte. »Du hast ihn doch nicht angefasst, oder?«
    Hiro sah weg. Er wurde rot. »Bin weggerannt«, sagte er.
    Ruth schenkte Wein ein, und sie tranken und redeten, bis das Häuschen im Dunkeln lag und die vertrauten Gegenstände ihres Studios – die Schreibmaschine, die Kochplatte und das Kaffeegeschirr, ihre Kannenpflanzen und das David-Hockney-Plakat, das sie an die Wand geheftet hatte, um den Raum ein wenig aufzuhellen – im tiefer werdenden Zwielicht allmählich ihre Konturen verloren. Sie erzählte Hiro von ihrer Jugend in Santa Monica – gab es dort Japaner?, wollte er wissen, gab es Neger? Mexikaner? –, und er erzählte ihr von seinem Hippie-Vater, von der Schande seiner Mutter, von den Schimpfnamen, die ihn verfolgten, seit er laufen konnte. Sie beugte sich zu ihm hinüber, während er sprach: das war es also. Sein Haar, seine Augen, seine Statur – er war ein halber Amerikaner.
    Später erzählte sie ihm, was sie tat – Schriftstellerin war sie? Der Gedanke schien ihn

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