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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ich am allerwenigsten gerechnet hatte.
    Der Dschungel war auf den letzten Meilen weniger dicht gewesen, und der Boden stieg jetzt leicht, aber beständig an.
    Wir mußten uns dem Gebirge nähern und damit auch den Höhlen, von denen der Olmeke gesprochen hatte. Unser Vormarsch hatte sich verlangsamt, obwohl das Gelände offener geworden war; die Männer waren am Ende ihrer Kräfte angelangt.
    Sogar die Wikinger, die an den ersten beiden Tagen ausge-schritten waren, als gehörte das Wort Erschöpfung nicht zu ihrem Vokabular, zeigten jetzt deutliche Anzeichen von Müdigkeit. Ich selbst schleppte mich nur noch mit letzter Kraft voran; jeder einzelne Muskel in meinem Körper schmerzte, und meine Haut war zerschunden und zerkratzt.
    Die Sonne stand hoch, und selbst hier unten, am Grunde des dichten tropischen Regenwaldes, war es unerträglich heiß.
    Auf einer kleinen Lichtung hielt Setchatuatuan plötzlich an und hob die Hand. Auf seinen Zügen lag ein angespannter Ausdruck. Auch die anderen Indios blieben stehen.
    »Was ist los?« fragte Lasse. Setchatuatuan schüttelte hastig den Kopf und legte den Zeigefinder über die Lippen; eine Geste, die wohl überall und zu jeder Zeit verstanden wurde.
    Ich lauschte angestrengt, aber ich hörte nichts, und auch der Wikinger zuckte nach ein paar Sekunden mit den Achseln und warf dem Olmekenhäuptling einen fragenden Blick zu. »Ich höre nichts«, sagte er leise.
    Setchatuatuan nickte. »Eben«, flüsterte er. »Es ist zu still.«
    Und jetzt, da er es aussprach, fiel auch mir die Stille auf.
    Während der letzten drei Tage hatte uns ein niemals ganz verstummender Chor von Tierstimmen und anderen Lauten begleitet, aber jetzt war es beinahe geisterhaft ruhig. Selbst das Rascheln des Windes in den Baumwipfeln schien gedämpft.
    »Was ist das?« fragte Lasse. Seine Stimme klang müde, aber seine Hand lag auf dem Schwertgriff. »Eine Falle?«
    »Kaum«, murmelte Setchatuatuan. »Eher …«
    Der Rest seines Satzes ging in einem markerschütternden Schrei unter. Die Männer fuhren in einer einzigen Bewegung herum, Waffen wurden gezogen und Schilde gehoben, und ein paar der Indios kreischten erschrocken auf.
    Auch ich prallte zurück, als ich den gewaltigen schwarzen Schatten sah, der links von mir aus dem Busch gebrochen und über einen der Wikinger hergefallen war.
    Es war ein Jaguar; ein gewaltiges, schwarzes Tier, größer als ein Schäferhund und mit kleinfingerlangen, blitzenden Reißzähnen.
    Der Mann, den er angesprungen hatte, lebte, aber schon sein erster Tatzenhieb hatte gereicht, den Panzer des Kriegers zu zerreißen und eine Krallenspur über seine Brust zu ziehen.
    Er versuchte sich zu bewegen, aber die Pranken des schwarzen Jaguars hielten ihn so mühelos nieder, wie eine Katze eine Maus niederdrückt.
    Lasse Rotbart erwachte mit einem krächzenden Schrei aus seiner Betäubung und riß sein Schwert hoch. Aber er kam nicht dazu, dem Mann zu Hilfe zu eilen. Mit einer blitzartigen Bewegung vertrat ihm Setchatuatuan den Weg und hob befehlend die Hände.
    »Keinen Schritt weiter, Lasse Rotbart«, sagte er laut.
    Der Wikinger erstarrte. Das Schwert, das er noch immer zum Schlag erhoben hatte, zitterte in seiner Hand. »Was soll das?« fragte er. »Diese Bestie wird Sven töten!«
    »Du wirst ihn nicht anrühren«, sagte Setchatuatuan hart.
    Gegen den hünenhaften Wikinger wirkte er wie ein Zwerg, aber in seinem Blick war keine Spur von Angst. »Die Götter verlangen ein Opfer«, sagte er. »Es würde uns Unglück bringen, es ihnen zu verwehren.«
    Lasses Lippen begannen zu beben. Ich ahnte, was in dem breitschultrigen Wikinger in diesem Augenblick vorging: Für die Olmeken war der Jaguar ein heiliges Tier, mehr noch, ein Gott, der nur in den Körper eines Tieres geschlüpft war, um in dieser Verkleidung unter den Menschen zu wandeln. Setchatuatuan und jeder einzelne seiner Männer würden sich eher umbringen lassen, ehe sie die Hand gegen dieses gewaltige schwarze Tier erhoben, oder zuließen, daß es ein anderer tat.
    Aber der Mann dort drüben gehörte zu Lasses Leuten, und für den Wikinger war der Jaguar nicht mehr als ein Raubtier.
    Die Spannung, die plötzlich zwischen den beiden ungleichen Männern herrschte, war beinahe greifbar. Ich sah, wie Lasses Männer unauffällig ihre Waffen fester packten.
    Für einen Moment konzentrierte sich die Aufmerksamkeit aller nur auf Lasse und den Olmekenhäuptling; von mir schien niemand Notiz zu nehmen. Wahrscheinlich hätte ich in

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